: Grillschinken mit Nieselregen Von Ralf Sotscheck
Einen Moment lang herrschte peinliche Stille im Raum. Ich hatte das böse T-Wort ausgesprochen. „Möchtet ihr am Samstag zum Truthahnessen vorbeikommen?“ hatte ich gefragt. Es ist nämlich ein irischer Brauch, daß man nicht nur Weihnachten, sondern am 6. Januar einen gebratenen Vogel ißt. Dieser Tag heißt „Nollaig na mBan“: Frauenweihnacht – und deshalb sind theoretisch die Männer für die Zubereitung des Tieres zuständig.
Um die unangenehme Stille zu beenden, fragte ich nach einer Weile: „Oder habt ihr euch am Weihnachtstruthahn überfressen?“ Man wolle darüber nicht sprechen, sagten Thomas und Karena fast gleichzeitig. Erst später, als Thomas ein wenig angetrunken war, rückte er mit der Geschichte heraus. Seine Schwiegermutter hatte darauf bestanden, das weihnachtliche Großgeflügel für das Familiendinner erst am Heiligabend nach 16 Uhr zu kaufen, weil die Supermärkte dann angeblich die Preise herabsetzen. Das habe ihre Mutter schon so gemacht und manchen Penny dabei gespart. Das war allerdings vor 20 Jahren. Heutzutage muß man frische Puter vorbestellen, damit die unverkauften Tiere nicht über die Feiertage in den Geschäften vergammeln.
Das sah die Schwiegermutter freilich erst ein, nachdem sie im achten Supermarkt und in der zwölften Fleischerei dieselbe Auskunft bekommen hatte. Nun war es bereits kurz vor sechs, aber bei „Dunne's“ in der Innenstadt lag noch ein riesiger Vogel in der Tiefkühltruhe – zum vollen Preis, versteht sich. Thomas plädierte für Ente mit Morcheln vom chinesischen Take-away, doch seine Schwiegermutter war traditioneller eingestellt: „Die Nachbarn haben auch einen Truthahn.“ „Aber einen frischen“, wandte Thomas ein. Den hatten sie per Bahn von der bäuerlichen Verwandtschaft bekommen.
Thomas' angeheiratete Verwandten bauen jedoch Kartoffeln an, und so blieb nichts anderes übrig, als das tiefgefrorene Exemplar zu erstehen. Natürlich war das Tier am nächsten Morgen noch immer steinhart. Thomas rückte ihm mit der Axt zuleibe. „Ich stellte mir vor, es sei die Schwiegermutter“, sagte er. Der zerkleinerte Vogel paßte zum Auftauen zwar in die Mikrowelle, doch damit war das Schreckensmahl noch lange nicht gesichert.
Schwager Brendan sollte den gekochten Schinken mitbringen, denn ohne Schinken ist kein Weihnachtsessen komplett. Da selbst die Grundregeln der Kochkunst an Brendan spurlos vorübergegangen waren, hatte er den Vierpfünder ins Wasser gelegt, eine halbe Stunde gekocht und wieder herausgenommen, weil er „außen so schön rosig war“, wie Brendan es beschrieb. Jetzt war es natürlich zu spät, den Schinken zu kochen. Die einzige Möglichkeit, ihn genießbar zu machen, war auf dem Holzkohlengrill, denn die Herdplatten waren mit Kartoffeln und Gemüse belegt. So mußte sich Thomas in den Garten stellen, den Grill mit einem Schirm vor dem Nieselregen schützen und den Schinken scheibchenweise garen. „Die Nachbarn halten mich seitdem für wahnsinnig“, meinte Thomas, „und ich weiß, daß sie mich heimlich durch ihr Schlafzimmerfenster fotografiert haben.“ Der Pizza-Expreß sei recht preiswert, sagte er nachdenklich. „Und er soll auch Weihnachten pünktlich liefern.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen