■ Scheibengericht: Gothic Voices
The Spirits of England and France, Part 2 (Hyperion CDA 66773)
„Frankreich gibt es gar nicht, jedenfalls nicht als unique nation!“ lautet die Behauptung des Historikers Fernand Braudel. In Wirklichkeit besteht die „einige Nation“ aus Dutzenden verschiedener Regionen und Landschaften mit vollkommen eigenem Gepräge. Durch das alte Frankreich ging aber noch ein weiterer Riß, der den Norden vom Süden trennte. Die Sprache bildete die Barriere, wobei sich am Wörtchen „ja“ – „oc“ oder „oil“ – die Geister schieden.
Die Welt des Südens war im Mittelalter das Land der Troubadoure, die in der „langue d'oc“ dichteten und sangen. Dagegen war der französische Norden, also die Gebiete, die heute Belgien, die Picardie und die Champagne bilden, die Heimat der Trouvères, wie diejenigen bezeichnet wurden, die Verse und Melodien (er-)fanden. Ihre Sprache war die „langue d'oil“, die sich in eine Vielzahl von Dialekten auffächerte. Ein riesiger Schatz von ungefähr zweitausend Liebesgedichten ist aus diesem Landstrich aus dem 13. Jahrhundert erhalten geblieben, darunter Liebesklagen, Tanz- und Spinnlieder, Gebete sowie politische Lyrik.
Es sind ausschließlich einstimmige Chansons, die in der Aufnahme des englischen Spitzenensembles „Gothic Voices“ gelegentlich mit spärlichen Klängen von Laute oder Dudelsack begleitet werden. Die Ausdruckspalette reicht vom „erhabenen Stil“ der „Grand Chants“ bis zu recht unverblümten Versen der „Pastorellen“, wobei die Qualität des Vortrags von der Atemtechnik abhängt. Ein einziger Atemzug sollte für eine melodische Einheit reichen.
Eine schnellere Gangart schlagen dagegen die instrumentalen Tanzstücke (die sogenannten „Estampies“) an, die solo von der mittelalterlichen Fiedel angestimmt werden und willkommene Abwechslung bieten. Ein Dichtersänger bringt es auf den Punkt: „Wer nicht zuhört, hört schlecht!“ heißt es in einem der Chansons.
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