: Gorbatschows juristische Baltikumoffensive
■ Estnische und lettische Unabhängigkeitsresolutionen aus Verfassungsgründen für nichtig erklärt / Russische Minderheit will für Verbleib der baltischen Staaten in der UdSSR streiken / USA zögerlich bei Frage einer UN-Mitgliedschaft der „Neustaaten“ / Landsbergis bremst
Moskau/Vilnius (afp/ap) - Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hat die Unabhängigkeitsresolutionen der Parlamente Lettlands und Estlands für illegal erklärt. „Diese Erklärungen sind nichtig und ohne Auswirkung, ebenso wie alle Entscheidungen auf dem Weg zu ihrer Umsetzung“, zitierte das sowjetische Fernsehen den Präsidenten. Gorbatschow wies darauf hin, daß mit diesen Resolutionen gegen die sowjetische Verfassung verstoßen werde sowie gegen das am 3. April verabschiedete Gesetz, in dem die Bedingungen für die Separation einer Sowjetrepublik festgelegt worden sind.
Die politische Lage in den baltischen Staaten ist angespannt. Über der lettischen Hauptstadt Riga wurden am Montag aus Hubschraubern Tausende von Flugblättern der russsisch-sprachigen Anti-Unabhängigkeitsbewegung „Interfront“ abgeworfen. Auf ihnen wurde für gestern zu einem Streik und zu einer Protestkundgebung vor dem Parlament gegen die Unabhängigkeitserklärung aufgerufen. In allen drei Baltenrepubliken wollten am Dienstag die moskautreuen Parteiorganisationen Kundgebungen veranstalten. In Riga versuchten mehrere tausend unbewaffnete sowjetischen Soldaten erneut, in das Parlamentsgebäude einzudringen. Sie trugen Transparente mit der Aufschrift „Lang lebe die UdSSR“ bei sich. Schon am Vortag wollten etwa 100 Offiziere betreten.
In einem Rundfunkinterview sprach sich gestern Litauens Präsident Landsbergis unterdessen für ein langsameres Tempo des Unabhängigkeitsprozesses ein.
Während die US-Regierung sich zurückhaltend in der Frage einer möglichen UN-Mitgliedschaft der baltischen Staaten äußerte, meinte in London der britische Außenminister Hurd: „Es gibt gewisse Werte, die der Westen weiter hochhalten muß.“ Der konservative Hurd betonte, „wenn in Litauen militärische Gewalt eingesetzt werden sollte, können wir nicht weiter Kontakte mit Moskau pflegen, als ob nichts geschehen wäre.“ Hurd ging auch auf die Gefährdung der innersowjetischen Machtposition von Michail Gorbatschow ein. Diese ergebe sich besonders durch die Autonomiebestrebungen der baltischen und kaukasischen Republiken: „Wir wollen der Perestroika so viel helfen, wie wir können. Europa wird ein weniger stabiler und gefährdeterer Platz sein, wenn sie scheitert. Aber ihr kann nicht um jeden Preis geholfen werden.“ In dieselbe Kerbe schlug auch eine Delegation litauischer Abgeordneter, die sich auf Einladung der Christdemokraten des Europaparlaments am Dienstag zu einem Besuch in Straßburg aufhielten. Sie forderten ie westlichen Länder dringend zur Unterstützung ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen auf.
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