: Gorbatschow in der Goldenen Stadt Prag
■ Die Begrüßung des sowjetischen Parteichefs in Prag fiel unterkühlt aus / Ein Treffen mit Dubcek gilt als unwahrscheinlich / Bedeutende außenpolitische Erklärung Gorbatschows wird erwartet / Tschoslowakische Führung: Aus den sowjetischen Reformen Lehren ziehen
Aus Prag Erich Rathfelder
Als Michail Gobatschow in seiner Staatskarosse auf der Prager Burg, dem Hradschin, eintraf, erwartete ihn zwar freundlicher Beifall, doch das versteinerte Gesicht seines Parteichefkollegen Gustav Husak war nicht dazu angetan, die Menschen zu Freudenstürmen hinzureißen. Nur dort brandete Beifall auf, wo der Generalskretär und Frau Raissa Hände schüttelten. Die Animateure, die versuch ten, die Menschen zu Hochrufen zu veranlassen, mußten erleben, daß niemand sich ihren Wünschen fügte. Die Prager zeigen Sympathie für Gorbatschow, doch sind die Erwartungen gedämpft. Die Menschen kamen, weil sie neugierig waren, die meisten Betriebe und Schulen hatten freigegeben. Die Geschäfte sind mit Gorbatschow–Bildern drapiert, auf denen der Leberfleck auf der Stirn wegretouchiert ist, ein Umstand, der zu Spekulationen führte. Doch nur die Nachricht, daß Gorbatschow nun doch nach Bratislava fährt, heizt die Gerüchteküche an. Aber die Mehrheit ist sich einig. Der sowjetische Parteichef wird nicht mit dem ehemaligen Parteichef Dubcek zusammentreffen. Immerhin wurde bekanntgegeben, daß Gorbatschow in der slowakischen Hautstadt unter freiem Himmel sprechen und dort neue außenpolitische Vorschläge machen wird. Eine für den Donnerstag angekündigte Pressekonferenz wurde hingegen abgesagt, stattdessen wird der Generalsekretär nach den Worten von Regierungssprecher Gerassimow am Freitag zur Verfügung sehen. Während die DDR–Zeitung Neues Deutschland die Reise des sowjetischen Parteichefs nach Prag nicht einmal erwähnte, betonen die Prager Zeitungen die guten Beziehungen zur Sowjetunion. Vor allem, so heißt es, seien außenpolitisch keine Differenzen vorhanden. Auch in der wissenschaftlich–technischen Zusammenarbeit ergäben sich positive Aspekte. Gerade weil „der Modernisierung veraltete Denkweisen entgegenstehen“, müsse die CSSR bemüht sein, „aus dem, wozu sich die sowjetischen Kommunisten durchgerungen haben“, Lehren zu ziehen. Der Besuch des „Vorkämpfers neuer Gedanken und Ideen“ sei in der CSSR jedenfalls ein Markstein in der Beziehung beider Länder. Gorbatschow wird diese Worte wohl aufnehmen, stehen sie doch im Kontrast zu den versteinerten Mienen der Führungsmannschaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen