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KOMMENTARGorbatschow im Widerspruch

■ Machtanhäufung soll gegen Machtverlust helfen

Michail Gorbatschow greift nach Sondervollmachten zu einem Zeitpunkt, zu dem die Auflösung seiner Macht längst in vollem Gange ist. Allenthalben ist von einer „Krise der Macht“ die Rede, davon, daß man gar nicht mehr benennen könne, wer ihr Träger sei und wer für was verantwortlich zeichne. Erst kürzlich malten renommierte Perestroika-Blätter die Gefahren eines Militärcoups an die Wand. Ist er auch nicht wahrscheinlich, signalisierten Gedankenspiele dieser Art doch Nervosität und Orientierungslosigkeit. In diesem Rahmen folgt Gorbatschows Schritt eher einer Rationalität der Verzweiflung als der Machtakkumulation. Schon in den zurückliegenden Jahren war es nicht selten so, daß die Konzentration von Befugnissen in seinen Händen einherging mit dem Verlust an Durchsetzungskraft.

Reform über Notstandsmaßnahmen und Ausnahmerecht — ist das die Philosophie, die hinter den Beschlüssen von Moskau steht? Auf einer sehr akademischen Ebene läßt sich darüber streiten, ob die Einführung des Marktes einer „eisernen Hand“ bedarf. Im politischen Geschäft des Alltags sind die Risiken allerdings unübersehbar. Da droht der Zusammenstoß mit den Reformkräften, die ein Mehr und nicht ein Weniger an Bewegungsfreiheit wollen. Auf sie bleibt Gorbatschow, will er das Land umkrempeln, angewiesen. Und Ausnahmerechte lassen sich nur mittels jenes Apparates durchsetzen, gegen den sie sich richten sollen. Ein Zirkel, der schon manchem das politische Aus brachte. Groß, ja übergroß sind die Gefahren im Verhältnis zu den auf Souveränität bedachten Republiken. Hier hatte Gorbatschow schon in der Vergangenheit keine glückliche Hand.

Das Paket an Maßnahmen, das der Reform nun endlich — nach sechs Jahren — zum Durchbruch verhelfen soll, könnte wieder einmal verpuffen. Gorbatschows Autoritätsverfall zu Hause läßt sich mit einem Rückgriff auf autoritäre Strukturen letztlich nicht stoppen, er ist vielmehr ein Resultat davon.

Radikale Einschnitte sind nötig. Und radikale Einschnitte verlangen Kraft, sich auch gegen Widerstände zu behaupten. So, wie das Land heute verfaßt ist, gelingt dies nur durch neue Koalitionen mit jenen Bewegungen, die den Aufbruch wollen. Für Alternativen ist da wenig Spielraum. Eine Konfrontation mit den Reformern um der Reform willen würde selbst die oft beschworene List der Geschichte überfordern. Den Kritikern Gorbatschows freilich sei gesagt, daß es auch zu ihm keine Alternative gibt. Jedenfalls gegenwärtig nicht. Wolfgang Eichwede

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