piwik no script img

Goldstaub

Krieg könnte heißen, jeden Tag neue, noch schönere Sätze zu finden. Und sie zugleich zu verschwenden

von ANTJE RÁVIC STRUBEL

In den Zeitungen ist wochenlang von nichts anderem die Rede gewesen als vom Krieg. Ich habe die Leute in der Berliner S-Bahn beobachtet und gesehen, wie die neuen alten Wörter der Militarisierung in ihre Stirnen getropft sind. Und ich möchte Sie fragen: Wissen Sie denn, was Sie davon zu halten haben? (Ich weiß es nicht, und je mehr ich gelesen habe, desto weniger wusste ich; all diese klugen, analytischen Artikel, all die soziologischen, kulturhistorischen, geistesgeschichtlichen Betrachtungen, und dennoch bleibt dieser Krieg voll mittelalterlicher Glaubenswut, irrsinnigem Terrorismus und modern-zackigen Luftangriffen von hier aus gesehen ungreifbar, nur die Mythen breiten sich aus.)

Aber in seiner Ungreifbarkeit parasitiert er an meinem Leben, an meinem Alltag und bohrt sich in meine Vergangenheit. Plötzlich denke ich wieder an die Russen, die zur Friedenssicherung eingesperrt hinter ihren weiß gekalkten Mauern hockten. Obwohl das mit dem, was ich da in der Zeitung lese, nichts zu tun hat. Oder daran, wie ich, ebenfalls zur Friedenssicherung, an der Eskaladierwand abgerutscht bin und im Schlamm lag. Und wenn Sie wie ich aus dem Osten kommen: Wissen Sie denn, wie Sie sich verhalten sollen, wo Sie plötzlich wieder gegen Amerika sein müssen, wenn Sie für den Frieden sind, womit Sie dieses Mal aber nicht zu den Guten gehören, sondern quasi schon zu den „Schläfern“, was wiederum klingt wie der Deckname eines gewaltigen IM? Und dabei finden Sie Amerika doch nach wie vor gar nicht so schlecht?

Ich habe die Aktienmärkte beobachtet; nach den ersten Bombenangriffen kauften die Leute verstärkt Lebensmittel und Waschpulver. Ich halte am Bahnhof Zoo Ausschau nach Frauen mit Burka. Mir gefällt an diesem Krieg, dass vor seiner Schärfe endlich die Verfolgung dieser Frauen nicht mehr übersehen werden kann.

Und gleichzeitig: Welch ein Hohn, plötzlich das als eine Kriegsrechtfertigung zu missbrauchen, was vorher so vehement ignoriert werden konnte.

Neulich habe ich ein Bett gekauft, und auch dabei bin ich nicht um den Krieg herumgekommen.

Ich habe kurzzeitig darüber nachgedacht: Solltest du je flüchten müssen, was ist dann praktikabler: eine große Matratze oder zwei kleine. Der Krieg ist überall. Er reicht so weit, dass eine Freundin sich rechtfertigt dafür, trauriger über ein Ei gewesen zu sein, das aus einem Vogelnest gefallen und zerschellt ist, als über verheerende Streubombenangriffe.

Für Rosa Luxemburg war es der geschundene Ochse vor ihrer Gefängniszelle, an dem sie bitter erkannte, „wie der ganze herrliche Krieg“ an ihr „vorbeizog“. Zwar ist auch dieser Krieg wie die meisten größeren Kriege der Geschichte erst mal neu, aber wir reagieren mit bekannten Ängsten darauf. „Das neue Fleisch wird mit den alten Gabeln gegessen“, wie Brecht formulierte. Dabei reagieren wir so heftig, dass wir nicht bemerken: Obwohl wir mitten drin sind, leben wir doch immer noch friedlich! Was treibt uns bloß dazu, so sehr als Schattenboxer daran teilzuhaben, dass es alle unsere Lebensbereiche durchzieht?

Lassen Sie mich dazu über die Liebe plaudern. Ich bin Schriftstellerin, und die Liebe ist immerhin das andere große Thema in der Literatur. Ich meine nicht die glatte Nächstenliebe, den schwesterlich mitleidenden Beistand in Zeiten der Not. Lassen Sie mich fantasieren, ich verliebte mich in eine schwer kranke Frau und begehrte sie, während ihr Körper vom Schmerz belagert würde.

Erotik aber wäre ein Widerspruch zu dieser Art Schmerz. Erotik ist anmaßend gegenüber einem Körper, der um die schiere Existenz ringt. Sie verkleinert den Schmerz, indem sie über ihn hinweggeht, ihn nicht ernst nimmt, denn im Zugriff des Schmerzes wäre sie abwesend. Ein Flirt wäre also nur denkbar mit dem Höhenflug der Einbildung, man könnte etwas ausrichten gegen den unweigerlichen und nicht fassbaren Krankheitsverlauf, man könnte ihn verändern, löschen, wenigstens für eine begrenzte Zeit anhalten.

Die äußerste Reaktion der Erwählten auf mein Angebot wäre wohl Herzlichkeit, Herzlichkeit ohne jeden Unterton, denn vielleicht käme ein Flirt so wenig in Frage, dass schon das Angebot zu flirten nicht mehr wahrgenommen werden könnte. Und trotzdem schwingt man sich auf und sieht sich als feurigen Cupido in dieses andere Leben sprengen und zu allem fähig.

Denn die Antwort läge möglicherweise in der eigenen emotionalen Verschwendung. (Mir fällt der junge Russe ein, der in Potsdam eines Nachts über die gut drei Meter hohe, mit Stacheldraht gesicherte Kasernenmauer kletterte und in die Stadt hineinsprang, die er nie zuvor gesehen hatte; nur so, in einem plötzlichen Anflug von Übermut, obwohl er wusste, daß ihm der Sprung zum Verhängnis werden würde.) Die eigene emotionale Verschwendung zu Gunsten einer Nichtanerkennung des Krieges. Würden wir den Krieg anerkennen, wären wir stumm, wir würden keine narzisstischen Überlegungen zum eigenen Flüchtlingsdasein anstellen; wir wären flüchtig.

Ist es also nicht geschickter, mit einer fröhlichen Heftigkeit zu reagieren, die Krankheit mit Hingabe und wissentlich zu ignorieren, sie mit Erotik wild überwuchern zu lassen, als vor ihren Mauern Halt zu machen? Und ebenso geschickt ist es vielleicht, jede noch so alltägliche Überlegung an den Krieg zu vergeuden, um dadurch das tatsächlich Beängstigende greifbar zu machen.

Für mich als Schriftstellerin könnte das heißen, jeden Tag aufs Neue Sätze zu finden, die die gestrigen immer an Schönheit noch übertreffen – denn solange sie gefunden werden, gibt es den Raum einer Bejahung –, aber sie gleichzeitig auch zu verschwenden, indem ich sie abends wieder streiche, bis ich lauter schöne, jedoch gestrichene Sätze habe.

Das käme der Realität (ihren Verlusten) am nächsten. Zwar kann der Stein den Goldkelch wohl zerstören, doch will ich lieber dann dem Goldstaub angehören, wie es im orientalischen Märchen heißt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen