Goethe-Institut Nowosibirsk eröffnet: Frühlingserwarten
Morgen könnte hier alles zu neuem Leben erwachen - oder aber den Bach runtergehen. Eine Reise nach Nowosibirsk inklusive Einblicken in die dortige quirlige Kulturszene.
Lenin im Schneegestöber, mit wehendem Mantel blickt er den Flocken entgegen, die sein Granitgesicht in ein schwarzweißes Negativbild verwandeln. Links von ihm drei martialische Rotarmisten; rechts Frau und Mann in athletischer Pose, sie reckt eine stilisierte Ähre in die Höhe, er eine flammende Fackel. Hinter dem Figurenensemble das tempelgleiche Operntheater mit der mächtigen Kuppel. Ringsumher die Stadt, die ihrem Leninplatz nicht recht Paroli bieten kann. Im großen Bogen führt der breite Krasnij Prospekt, der "Rote Prospekt", an ihm vorbei. Fußgänger, die hinüber wollen, müssen hinunter, die Unterführung ist tagsüber ein Backwaren-Blumen-BH-DVD-Aquarientiere-Dschungel. Drüben, auf der Leninstraße, werden Punkt Mitternacht die Laternen ausgeschaltet. Der Gleitschuhschritt, den man sich im Nowosibirsker Schnee schnell angewöhnt hat, wird dann noch vorsichtiger. Still ist die Stadt, wie auf der Lauer. Sie wartet auf den Frühling, schon morgen könnte er sich zeigen. Morgen könnte hier alles zu neuem Leben erwachen. Oder den Bach runtergehn. Die gute Nachricht: Gleich um die Ecke hat das Goethe-Institut ein kleines Gründungsbüro eröffnet. Bis Jahresende will man eine zentrale, einladende Adresse gefunden haben.
Russland ist mehr als Moskau und Sankt Petersburg, von wo aus das landesweite Netz an Sprachlernzentren und Lesesälen für den Deutschunterricht bisher koordiniert wurde. Sibirien wiederum ist viel mehr als das hundertjährige "Neu"-Sibirsk, betonte Goethe-Präsident Klaus-Dieter Lehmann, der direkt aus Brüssel von der dortigen 50-Jahr-Feier des Instituts anreiste. Lehmann lernte Sibirien und seine anderen große Städte Omsk, Tomsk, Tjumen, Tobolsk schon 1992 kennen. Damals war er Direktor der Deutschen Nationalbibliothek, die nach dem Zerfall der Sowjetunion Bücher für die russischen Universitäten spendete: "Es war ein Aufbruch, niemand wusste, was kommt. Man hat plötzlich diese Freiheit gespürt, für uns alle war das eine wunderbare Zeit." Vielleicht erlebe man diese Stimmung heute nicht mehr, die Neugier und Offenheit seien aber noch da. Und gerade der Hunger nach Kultur werde hier, anders als etwa in Moskau, selten gesättigt.
Deshalb hatte Veronika jeden Tag in Berlin so ausgekostet. Sie war im Sommer aus Nowosibirsk gekommen, für einen Deutschkurs an einer privaten Sprachschule. Obwohl es ein kühler, vernieselter August war, lief Veronika jeden Nachmittag nach dem Unterricht stundenlang durch Berlin, abends erzählte sie völlig erschöpft von Friedrichshain, Kreuzberg, Kirchen und Konzerten. Einmal fuhr die 24-jährige Journalistikstudentin und Pianistin nach Lutherstadt Wittenberg, es goss in Strömen, aber Veronika wollte unbedingt hin, dort war sie als Tochter eines sowjetischen Offiziers eine Zeit lang aufgewachsen: "Ich habe alles wiedergefunden!", verkündete sie später mit leuchtenden Augen, aß ihre Lieblingsfertigsuppe und setzte sich mit geradem Rücken an die Hausaufgaben. Nun, der Eröffnung des dritten russischen Goethe-Instituts sei Dank, unser Wiedersehen in Nowosibirsk. Wir schleichen über den heimtückischen Schneeteppich, Veronika fragt: "Verstehst du jetzt, warum ich von Berlin nicht genug kriegen konnte?" Vielleicht. Wo sind die 1,4 Millionen Menschen, die hier leben sollen? Das Verstehen will sich in den drei Tagen Nowosibirsk nicht einstellen, aber eine unverhoffte Sympathie für den spröden Charme der sibirischen Hauptstadt.
"Spröde" und "warm" zugleich nennt Dirigent Frank Strobel den Klang des Symphonieorchesters, mit dem er im Staatlichen Akademischen Opern- und Balletthaus am Leninplatz Sergej Prokofjews "Romeo und Julia" aufführte. Das Konzert am Freitagabend war der festliche Eröffnungsakt für das Goethe-Institut, nach Begrüßungsreden nicht nur von Klaus-Dieter Lehmann und dem deutschen Botschafter Walter Jürgen Schmid, sondern auch vom Gouverneur der Nowosibirsker Region Wiktor Tolokonskij und vom Oberbürgermeister der Stadt Wladimir Gorodezkij. Scheu hatte Veronika, die klassische Musik liebt, die Frage abgewehrt, ob sie sich nicht auch eine Karte besorgen wolle. Bis vor kurzem kam sie als Fernsehjournalistin ganz gut über die Runden, jetzt wurde sie wie alle freien Mitarbeiter entlassen. In dem Arena-Saal des größten russischen Opernhauses blieben einige der 2.000 samtbezogenen Holzstühle leer.
Dabei gab es eine ungewöhnliche Russland-Premiere. Der künstlerische Leiter der Europäischen Filmphilharmonie Frank Strobel hatte die Prokofjew-Partitur des sowjetischen Ballettfilms "Romeo und Julia" von 1954 restauriert. Auf der Leinwand lief nun der kitschige, perfekt einstudierte Tanzfilm, aufgenommen mit dem Ballett des Moskauer Bolschoi-Theaters und der schmetterlingshaft durch antik anmutende Kulissen flatternden Primaballerina Galina Ulanowa. Dazu spielte das Nowosibirsker Symphonieorchester unter Strobels Leitung: eine Reise in die Vergangenheit sowjetischer Hochkultur, durchaus eine Hommage an einen Geist, der auch das neoklassizistische Nowosibirsker Opernhaus hervorbrachte, das Strobel "eines der besten weltweit bei dieser Größe" nennt.
"sibSTANCIJA_09" heißt das Festival, das die Eröffnung des Goethe-Instituts begleitet und einen Eindruck von der Vielfältigkeit und, klar, "Nachhaltigkeit" der künftigen Kulturarbeit geben soll. Die spanisch-philippinisch-türkisch-japanisch-deutsche "Hip-Hop-Ballett"-Gruppe E-Motion aus Düsseldorf tritt im Theater Krasnij Fakel ("Rote Fackel") auf. Das Kino Pobeda ("Sieg") zeigt im März eine Fatih-Akin-Retrospektive. Sechs deutsche und russische DJs reisen zusammen mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Nowosibirsk. Dort sollen sie einen gemeinsamen Sound präsentieren. Blogger beider Länder vereinigten sich in Nowosibirsk, um neben der digitalen eine direkte Verständigung zu versuchen. Die klappte allerdings besser zwischen den Nowosibirskern und den trompetenden und jodelnden Burschen von der bayerischen Lederhosenband LaBrassBanda. Das Goethe-Institut setze so stark auf Jugendkultur, sagt der Präsident, weil die Alten ihre Geschichten haben, "und die Jungen haben gar nichts". Aber müssen die Geschichten der Alten nicht auch erzählt werden?
Der Fotograf Andreas Herzau kam im Herbst 2008 für vier Wochen mit einem "Artist in Residence"-Programm des Goethe-Instituts. Seine Stadtporträts hängen jetzt im Staatlichen Kunstmuseum. Nahaufnahmen: Papierfetzen an einer Anzeigenwand als Aquarell; ein knallrotes Kleid und beste Blue Jeans an der Wäscheleine vor bleichen Neubaublöcken. Blechhäuschen in grauen Hinterhöfen: moosgrüne, dunkelrote, orangefarbene "Garagen", in denen die Nowosibirsker ihre Kartoffeln lagern oder an Mopeds herumschrauben; Reliquien einer untergehenden Welt.
Die international bekannte Künstlergruppe Sinije Nosy ("Blaue Nasen") durfte hier noch nie ausstellen. Oder gar ihre "White Cube Gallery" direkt vor dem Museum aufbauen, wie sie es geplant hatten. Weil sie etwa küssende Soldaten in Birkenwäldchen mimen, geraten sie regelmäßig in Konflikt vor allem mit Moskauer Ordnungshütern der russischen Kultur. Ihr Nowosibirsker Modell der berühmten Londoner Galerie für moderne Kunst, eine circa zwei mal vier Meter große rostbraune Blechgarage, steht jetzt im Hof vor Konstantin Skotnikows Wohnhaus. Mit Ausstellungen von einer Stunde oder Happenings für einen Tag verwandelt er sich in ein "Eckchen reiner Kunst", soweit es das Wetter erlaubt.
"Sogar der pensionierte Polizeibeamte im Haus war dafür", erzählt Kurator Skotnikow, während er, bis über die Knöchel im Schnee, mit dem eingefrorenen Schloss der Hütte kämpft. Die Innenwände sind weiß getüncht und mit Magnetsplittern besetzt, die auch das derzeit einzige Werk fixieren: eine Fotomontage mit Lenin auf einem Felsstück in der Brandung; tapfer hält er eine rote Fahne in die Höhe. "Die Revolution geht weiter", sagt der "Blaue Nasen"-Künstler Slawa Mizin. Er hat seine aktuelle Lektüre in einer Plastiktüte dabei, Lenin, Marx und Engels. Als bekennender Vieltrinker steht er in der Tradition des Schriftstellers Wenitschka Jerofejew, der die Sowjetrealität im Delirium zu unterwandern suchte. "Künstler sind kritische Kommentatoren", so Mizin: "Alle Ausstellungen hier, auch die vom Goethe-Institut, sind so rührselig, so liberal, sie machen keine Probleme und lösen keine Probleme."
Damit kann sich das Goethe-Institut auch Zeit lassen. Nowosibirsk ist eine Stadt, die viele Sehnsüchte hat, glaubt die 33-jährige Sinologin Julia Hanske, die Mitte Februar von Peking hierher umgezogen ist, um das neue Institut zu leiten. "Jemand hat gesagt, es ist sehr hart, wenn man hier nicht wegkommt, aber es ist ne wunderbare Stadt, wenn man reisen kann."
In das 25 Kilometer entfernte Akademgorodok, das "Städtchen der Akademiker", führt nur eine einzige Straße durch reglose weiße Weiten. Dann schmucke Häuserblöcke, bunte Spielplätze unterm Pulverschnee und das Gymnasium Nr. 3, das nun in das Netz von weltweit tausend geplanten "Pasch-Partnerschulen der Zukunft" aufgenommen wurde. Zwischen den lässigen Schülern im weißen T-Shirt und Basecap eine ältere Lehrerin mit hochtoupiertem Haar und großer rosa Blume im Revers. Die strahlende Schulleiterin im leuchtend violetten Kleid zittert ein wenig, als sie die "Pasch"-Plakette von Ministerialdirektor Martin Kobler entgegennimmt. Die Kinder rappen auf Deutsch und verhaspeln sich vor Aufregung. Der 16-jährige Anton schiebt sich mit seiner Kamera vor und sagt, er wolle in Deutschland studieren und Bildreporter werden. Das 1957 gegründete Forschungszentrum Akademgorodok sei paradoxerweise einmal eine "Insel der Freiheit" gewesen, erzählt der Physiker und Czeslaw-Milosz-Übersetzer Anatol Roitman. Am Sonnabend war hier eine neue Freiheit zu spüren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn