: Glücksrezept statt Viren-Exitus
■ Matratzen-Desinfektionshalle als Atelier für Ottersberger Kunst
Beige Kacheln bis unter die Decke, der Boden aus Beton, darüber weißes Neonlicht: Die ehemalige Desinfektionshalle des St.-Jürgen Krankenhauses. Bis vor zehn Jahren wurden hier die damals 2.000 Matratzen des Großkrankenhauses regelmäßig von ihren Viren getrennt, jetzt steht die Halle leer – meistens.
Nun durften sich sechs Absolventinnen der Ottersberger Kunsthochschule für drei Monate in der Kachelorgie breit machen, um ihre Abschlussarbeiten zu entwickeln: Sandra Born, Daniela Mader, Kris-tina Matthiesen, Astrid Montagne, Katrin Petrowitz und Karola Ruhsert. Denn: Außer durch beige besticht die alte Halle auch durch riesige Fensterflächen, die bestes Arbeitslicht hereinfluten lassen.
Den stärksten Bezug zum Klinik-Kontext stellt Katrin Petrowitz her. Geleitet von der Frage „was brauche ich, um mich wie ein Fisch im Wasser zu bewegen“ nutzt sie Ausstattung und Atmosphäre: An drei aus der Wand ragenden Metallgestängen der alten Halle baumeln an Angelschnüren aufgehängte Spielzeugfische. Die dahinter liegende verflieste Hallenwand vermittelt den Eindruck des Raums als Aquarium oder Schwimmbad. Mit Hilfe von Gipsabdrücken hat Petrowitz hauchdünne Fischhäute aus Latex zu einer Art Kleidungsstück auf die Leine gehängt: „Es geht mir um Häutungen, um die Erstellung einer Art Kleidung, die dem Träger die Leichtigkeit und Beweglichkeit von Fischen ermöglicht.“
Politische Message statt individueller Befindlichkeit: Sandra Born hat aus Reiseprospekt-Photos, Dias und kleinen Spielzeugsoldaten einen Videoclip produziert, der das Neben- und Gegeneinander von Urlaubsidylle und Kriegsschauplatz zum Thema hat. Spielzeugsoldaten räkeln sich am Strand auf Badelaken, untermalt von entspannter Synthesizer-Musik – Szenenwechsel, Zoom der Kamera auf Soldaten an einem Urwaldfluss. In beständigem Wechsel zwischen Urlaubsidylle im Hotel und in der Ferienanlage sowie der fremd wie befremdlich wirkenden, vom Kriegsgeschehen gezeichneten Umgebung liegt die Spannung dieser Installation. Durch Einsatz von Zoom und Zeitlupeneffekt wirken die Bilder verschwommen, verwackelt und immer bewegt – eine Bildqualität, wie man sie von Beiträgen der Kriegsberichterstatter kennt.
Karola Ruhsert wiederum ließ sich bei ihrer Arbeit von einem Back-Rezept inspirieren, das sie in rosa Gips auf eine Tischfläche spritzte: „150 g Wonne, 150 g Stolz, 4 Glück, 1 Te Sehnsucht, 2 Trpf Hingabe, 400 ml Lust, 1 Pkg. Anmut“ – die Zutaten für ein glückliches Leben. Mit Glück und Genuss hat auch ihre zweite Installation zu tun: eine für sechs Personen gedeckte Kaffeetafel mit Himbeertorte, aus der Edith Piafs Stimme verkündet „Non, je ne regrette rien!“ Auch die Viren hätten ihre Freude daran gehabt.
Gisela Mathiak
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