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Archiv-Artikel

„Glück hat keine Konturen“

Er war ein Clown der DDR, der heute weiß, dass Geschichte „die Geschichte unseres Unglücks ist“: Hans-Eckardt Wenzel über sein neues Album „Himmelfahrt“, deutsche Dumpfheit, politisches Fernweh, poetische Kamele und ein Leben als Pessimist

INTERVIEW THOMAS WINKLER

taz: Herr Wenzel, der Titelsong Ihres neuen Albums „Himmelfahrt“ beschreibt einen versoffenen Herrentag. Ist der Deutsche an einem solchen Termin endlich ganz bei sich?

Hans-Eckardt Wenzel: Ja, zumindest was unsere dumpfe Seite angeht. Ich war auf dem Weg zu einem Freund und da lagen die Besoffenen in den Dorftümpeln und mich packte ein Ekelgefühl, das rausmusste. Aber das ist ein Menetekel, das ich da an die Wand male. Wenn sich in diesem Land in den nächsten Jahren nichts ändert, wenn es sich immer weiter verschuldet und kein Geld mehr hat, um den Leuten etwas anzubieten, werden aus denen solche brutalen Trottel, die uns irgendwann überfallen und abstechen.

Ist das also ein politischer Song?

Ja, das ist für mich ein politischer Song. Aber es ist eine Karikatur, eher eine Grosz-Zeichnung als eine sachliche Beschreibung.

Kann politische Musik denn etwas erreichen?

Als Ostler bin ich natürlich sehr vorsichtig, da überhaupt was zu sagen, weil es ja die Illusion gab, mit Kunst ließe sich etwas erreichen. Im Druckkessel DDR hatte das auch eine ganz andere Funktion. Man hat die Leute zorniger machen können, man gab ihnen das Gefühl, mit ihrer Kritik nicht allein zu sein, man konnte Sozialisation stiften. Ich habe das Gefühl, dies in dieser Zeit nicht mehr leisten zu können.

Was wäre die Alternative?

Im Moment gibt es nichts, was ich lieber machen würde. Aber ich bin ja auch ein wenig der verstoßene Liebhaber. Das ist typisches DDR-Moment. Viele Leute haben die DDR bestraft, indem sie gesagt haben: Die DDR liebt mich nicht, ich reise jetzt aus. Alle Dinge, von denen man sich nicht verabschieden kann, zu denen hat man kein freies Verhältnis. Wenn man mit jemandem zusammenlebt, dann muss man auf den verzichten können, so schwer das auch ist.

Ist es dasselbe Fernweh, das sich auch durch das neue Album wie ein roter Faden zieht?

Eher beherrscht hat mich ein Gefühl von Unruhe, Schlaflosigkeit, Sehnsucht, Tod, auch weil man nun in einem bestimmten Alter ist, in dem Freunde sterben. Diese Dinge habe ich lange Zeit vor mir her geschoben, sie nicht thematisiert, weil sie mir auch zu düster schienen. Aber es hat auch mit Fernweh zu tun, weil es mich sehr geprägt hat, dass man in der DDR die Welt nicht bereisen konnte. Das war schon ein sehr eigenartiges Aufwachsen, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Das Fernweh hatte auch eine politische Dimension.

Waren Sie enttäuscht, als Sie die Länder bereisen konnten, von denen Sie geträumt hatten?

Ich bin als Erstes an Orte gereist, die ich aus der Literatur kannte. Ich habe mir in Granada Lorcas Grab angeguckt, ich bin nach Svendborg gefahren und habe mir das Haus angeguckt, in dem Walter Benjamin mit Brecht Schach gespielt hat. Über diese Orte habe ich mir Stück für Stück die Welt geholt, ich habe mich nicht überrollen lassen. Aber es hat mich schon enttäuscht, so wie alle Realität enttäuscht. Ich habe 1983 einen Text über Paris geschrieben, ohne dass ich je da war. Es ist natürlich was anderes, wenn man dann durch die Stadt geht und sucht eine Toilette.

Zu Hause ist es am schönsten, weil man Fernweh haben kann?

In der kabbalistischen Philosophie gibt es die Idee, dass die Juden ein Heimweh haben nach einem Ort, an dem sie noch nie waren. Das macht die Menschheit aus, dieser Ort Utopia, man hat Sehnsucht nach einem Ort, an dem es sich besser leben ließe.

Sie aber leben tapfer in Prenzlauer Berg.

Ja, aber ich habe seit der DDR-Zeit, wie sich das für ostdeutsche Intellektuelle gehört, einen alten Bauernhof in Vorpommern. Da rieche ich das Meer, da bin ich ganz nah am Bodden und kann immer schnell hinfahren.

Wie wichtig ist der Ort für die Entstehung eines Liedes?

Der Ort ist oft nur Anlass. Ich glaube, Texte sind authentisch, wenn sie poetisch sind. Die Frage ist: Zu welchem Phänomen verhalten sie sich authentisch? Der Ausgangspunkt ist immer die irdische Welt, an der wir letztlich verzweifeln, weil wir die Endlichkeit nicht vergessen können. Dagegen muss man ankämpfen.

Wie kämpft man dagegen an?

Indem man schreibt. Indem man versucht, den Dingen eine Form zu geben, damit sie ins Gedächtnis können. Die rhythmischen Strukturen der Poesie sind dadurch entstanden, dass die Leute auf den Kamelen sich Texte merken mussten.

Beim Schreiben scheint es viel leichter, negative Gefühle zu erinnern als glückliche.

Das Glück hat keine Konturen. Das Gedächtnis der Menschheit ist so konstruiert, die Geschichte ist die Geschichte unseres Unglücks. Uns interessiert die Geschichte von Romeo und Julia, weil sie nicht funktioniert hat. Hätte es zwischen Faust und Gretchen geklappt, wäre ihre Geschichte es nicht wert gewesen, beschrieben zu werden.

Im Hollywood-Kino gehen die Geschichten glücklich aus.

Deswegen halten sich diese Filme oft nicht. Sie sind auf Verkauf hin gemacht, nicht wie Kunst auf Erkenntnisgewinn hin. Filme sind kommerzielle Produkte, die mit den Mitteln der Kunst arbeiten. Sie wollen die Welt nicht erkennen, sondern sie wollen die Welt vergessen machen.

Sind Sie Pessimist?

Ich bin extremer Pessimist. Vielleicht ja, um die bösen Geister zu beschwören. So, wie man früher in der Schule eine Arbeit geschrieben hat und sagte, kann nur eine schlechte Note werden. Aber insgeheim hat man gehofft, es möge eine Eins werden. Ich würde nicht mehr arbeiten, wenn der Pessimismus zu groß wäre, als dass man ihn nicht mehr formulieren könnte. Aber wenn man momentan auf die Welt blickt, dann ist sie in einem furchtbaren Zustand: ein unglaubliches Elend, eine Ausweglosigkeit, dass mein Glück auf Kosten anderer geht.