: Gewinn für die Gesellschaft
Ein neuer Band erzählt anschaulich und vielfältig von Geschichte, Kultur und Politik der Lesbenbewegung in Deutschland
Zwei Ereignisse stehen am Anfang. Zum einen: Mit einem Tomatenwurf distanzierten sich 1968 weibliche Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes von den männlichen Genossen. Denn sie hatten es satt, ihre Kritik an patriarchalem Verhalten zum Nebenwiderspruch degradiert zu sehen.
Und zum anderen: In Itzehoe wurde über den Auftragsmord eines lesbischen Paares am Ehemann einer der Frauen verhandelt. Das führte zu einer tendenziösen Berichterstattung in der Bild-Zeitung und anderen Medien, was öffentliche Proteste lesbischer und heterosexueller Frauen auslöste.
Mit diesen Ereignissen begann die autonome Frauen- und Lesbenbewegung. Von ihren Impulsen profitieren heute alle Frauen, ja die gesamte Gesellschaft: Fristenregelung statt altem Paragraf 218, strafrechtliche Ächtung der Vergewaltigung in der Ehe, ein verändertes Verständnis von Geschlechterpartnerschaft, das große I – das sind nur einige Auswirkungen des Aufbruchs in den wilden Siebzigern, an dem lesbische Frauen wesentlichen Anteil hatten.
Man muss nicht unbedingt lesbisch sein, um sich für diese Zusammenhänge zu interessieren. Sie spiegeln ein wichtiges Stück deutscher Gesellschaftsgeschichte wider, das angesichts lärmender CSD-Umzüge, eingetragener Partnerschaft und öffentlicher Outings von Prominenten gern verdrängt wird.
Die drei Herausgeberinnen Gabriele Dennert, Christiane Leidinger und Franziska Rauchut versuchen in dem 456 Seiten starken broschierten Band „In Bewegung bleiben“ die Akteurinnen möglichst selbst zu Wort kommen zu lassen. Mehrere hundert Lesben bundesweit wurden gebeten, Beiträge zu liefern, rund hundert haben es schließlich getan: alte und junge, schwarze und weiße, bekannte Akademikerinnen und Prolo-Lesben. Entsprechend unterschiedlich ist die Sprache der Beiträge und vielfältig das Bild, das man von der lesbischen Bewegung gewinnt.
Während die Zeit bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland kenntnisreich, aber mangels Material eher grobkörnig abgehandelt wird (zumal sich Lesben damals noch nicht als solche begriffen), gliedert sich das Buch ab 1970 in Abschnitte, die jeweils ein Jahrzehnt oder ein Thema erfassen. Hier geht es um Lesben in der DDR, Transgender und Queer Politics, Rassismus und kulturelle Aktivitäten, Lesben und Kirche, Alter und abschließend um Tabu-Debatten der lesbischen Szene wie Geld oder Alkohol. Jeder Abschnitt beginnt mit einem profunden Überblickstext der Herausgeberinnen, der mit zahlreichen Quellenhinweisen auch aus der grauen Literatur versehen ist. Dann folgen kürzere Spezialtexte.
Bei aller Fülle gibt es auch Mängel: Der Perspektivenwechsel eines Teils der lesbischen Bewegung weg von der feministischen Grundlagenkritik hin zum Bürgerrechtsdiskurs und das Entstehen neuer lesbisch-schwuler Strukturen hätte man breiter würdigen können. Die intensiven kulturellen und sportlichen Aktivitäten (Chorfestivals, Eurogames etc.) der letzten zehn Jahre kommen nur am Rand vor. Die Sprache einiger Beiträge speziell zur Gender-Thematik ist extrem schwer verständlich. Zudem sind die Texte stark Berlin-lastig, was nur zum Teil damit zu tun hat, dass der Schwerpunkt der Lesbenbewegung in Berlin lag.
Trotz dieser Kritik bleibt das Buch ein bisher einmaliger Versuch, die deutsche Lesbenbewegung in ihrem Entstehen, ihren Veränderungen und ihrem heutigen Status nachzuzeichnen. Es sollte damit in keinem historischen Archiv fehlen, besonders, wenn man Geschichte auch als „Geschichte von unten“ begreift. ARIANE RÜDIGER
Gabriele Dennert u. a.: „In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben“. Querverlag, Berlin 2007, 456 Seiten mit zahlreichen s/w-Abbildungen, 24,90 Euro