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Gewerkschaftschef Tisch beginnt jetzt zu reden

■ Zeugen bestätigen: Gewerkschaftskasse war fest in SED-Hand

Berlin. Der frühere DDR-Gewerkschaftsbund FDGB ist in seinem Finanzgebaren vollständig vom alten Staats- und Parteiapparat der DDR kontrolliert worden. Die größte Massenorganisation des Landes habe nie eine selbständige Finanzarbeit geleistet, sagte der frühere FDGB-Wirtschaftschef Kurt Glaser am Donnerstag im Untreueprozeß gegen den ehemaligen FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch aus. Zeugen warfen Tisch erneut vor, den Verband in selbstherrlicher Manier geleitet zu haben. Tisch selbst hatte nach wochenlangem Schweigen zugegeben, daß Gelder aus der Gewerkschaftskasse an andere Organisationen flossen, wenn die Partei oder Generalsekretär Erich Honecker dies verlangten. Tisch, dem die Veruntreuung von 100 Millionen Mark zur Finanzierung eines Jugendfestivals der FDJ im Jahr 1984 vorgeworfen wird, sagte dazu, Honecker habe gebeten, die Staatskasse über den Solidaritätsfonds der Gewerkschaft zu entlasten.

Zweimal sei dies der Fall gewesen; in den Jahren 1984 und 1989. Das Präsidium des FDGB hatte nach Angaben von Graser im Jahr 1989 einen solchen Beschluß gefaßt und schriftlich dokumentiert. Für das Jahr 1984 gebe es keine schriftlichen Unterlagen. Das Fehlen dieser Unterlagen hatte Tisch als reine Formsache bezeichnet. Der 64jährige sagte, es sei absurd, ihm daraus jetzt einen juristischen Strick zu drehen und wies den Hauptanklagegrund von sich. Die Leiterin der Revisionskommission des FDGB, Charlotte Bombal, bezeichnete eine allein mündlich getroffene Entscheidung als „nicht rechtens“. Eine Kontrolle sei nicht möglich gewesen.

Harry Tisch, der zu Beginn des Prozesses im Januar einen eher abwesenden Eindruck machte, blickte am 15. Verhandlungstag allen Zeugen direkt in die Augen, machte sich aufmerksam Notizen. Er ließ sich von der Leiterin der Revisionskommission bestätigen, ihr persönlich keinerlei Anweisungen gegeben zu haben, Kontrollen zu unterlassen. Die 55jährige Ökonomin hatte zuvor erklärt, daß der Verfügungsfonds aus den Ferienreisen für Tisch und das frühere Politbüromitglied Günter Mittag von ihr auf Anweisung ihres Vorgängers nie geprüft worden sei. Sie habe von ihrem Vorgänger die Anweisung übernommen, Tisch habe Kontrollen verboten. Allerdings seien auch die Verfügungsfonds der Vorstände anderer Organisationen von der Revision nicht kontrolliert worden. Tisch selbst hatte die Abrechnungen seiner Aufenthalte an der Ostsee als „unkorrekt“ bezeichnet. In der nächste Woche sollen der ehemalige Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrates, Egon Krenz, und der frühere Sekretär des FDJ-Zentralrates, Eberhard Aurich, vor Gericht gehört werden. dpa

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