Gewalt gegen Klimaaktivist:innen: Sie nennen es Notwehr
Bei Straßenblockaden kommt es oft zu Gewalt. Wie kommt es, dass sich so viele Menschen von den Aktionen der Letzten Generation angegriffen fühlen?
Trommer ist vor knapp eineinhalb Jahren zur Letzten Generation gestoßen. Davor hatte sie sich vereinzelt politisch engagiert. Auf Usedom, wo sie lebte, waren die Angebote aber nicht gerade üppig gesät. Mit einem Umzug nach Berlin änderte sich das schlagartig. Durch Freunde wurde sie auf die Letzte Generation aufmerksam und machte mit – zunächst mit der Kamera als Fotografin, später nahm sie selbst den Sekundenkleber in die Hand und brachte damit Autos zum Stehen.
Mittlerweile ist es für Trommer Teil ihres Aktivismus, dass sie dabei Gewalt erlebt. Menschen schleifen sie über die Straße, zerren an ihrer festgeklebten Hand, schieben sie mit der Motorhaube vor sich her. Wenn die Wand an Autos und Lastwagen vor ihr anfängt zu hupen, fühlt sie sich taub in dem ganzen Lärm.
Natürlich regen sich Autofahrer:innen auf, wenn sie an der Weiterfahrt gehindert werden. Gerade bei regelmäßigen Staus, wie sie während des groß angekündigten zweiwöchigen „Stadtstillstands“ der Letzten Generation in Berlin vorkamen, ist die Wut auf die Blockierenden groß. Nicht ohne Grund sehen Gerichte in vielen Fällen den Straftatbestand der Nötigung durch die Aktivist:innen erfüllt.
Dr. Simon Teune
Dennoch sind die Reaktionen auf die meist schnell beseitigten Blockaden teilweise überraschend heftig: Im Internet posten Leute öffentlich Mordfantasien. Eine Provinzband aus dem wenig klebestau-gefährdeten fränkischen Landkreis Haßberge hat ein Musikvideo veröffentlicht, in dem der Sänger vom Traktor aus Gülle auf einen Aktivisten spritzt. Auf der Berliner Stadtautobahn schleifte ein Autofahrer zwei Aktivistinnen an den Haaren über die Fahrbahn. Manche fahren gar mit dem Auto über die festgeklebten Hände oder Füße der Blockierenden. Allein in den zwei Wochen „Stadtstillstand“ leitete die Polizei 33 Verfahren gegen Personen ein, die Straftaten gegen Aktivist:innen begingen. Die Zahl der eigentlichen Fälle dürfte aber noch deutlich höher liegen. Die Blockierenden erstatten nämlich meist keine Anzeige.
Die Gewalt ist ein neues Phänomen
Ob den Protestierenden schon immer so viel Gewalt begegnet sei? Nein, sagt Irma Trommer. Sie erinnert sich, wie sie mit anderen der Gruppe im letzten Sommer ein Video angeschaut habe, in dem eine Person von einem Auto durch die Menge geschoben wird. „Dass ein Auto einfach nicht anhält, wenn da ein Menschenleben vor ihm steht, das war irgendwie unvorstellbar“, erzählt sie. „Aber seitdem passiert das regelmäßig.“
Dass die Gewalt gegenüber der Letzten Generation zunimmt, beobachtet auch der Soziologe Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung. „Wenn jemand sich darüber aufregt, dass er oder sie wegen einer Blockade nicht rechtzeitig zu einem Termin kommt, dann ist das in diesem Fall kein individuelles Phänomen, sondern das findet in einem Rahmen statt, in dem diese Proteste kollektiv bewertet werden und auch der Umgang damit kollektiv festgelegt wird“, so der Wissenschaftler. Der Diskurs normalisiere Hass und Gewalt. Somit werde eine moralische Grundlage für Übergriffe gegen Aktivist:innen geschaffen und Gewalt als Antwort auf politische Konflikte enttabuisiert, folgert Bewegungsforscher Teune. Der Onlinekommentar à la „Fahr einfach drüber!“, die mediale Debatte darüber, ob Gewalt gegenüber Aktivist:innen nicht eigentlich Notwehr gegen deren Nötigung sei, und die Beschwörung einer vermeintlichen „Klima-RAF“ – all das beeinflusst, wie sich Menschen verhalten, wenn sie dann tatsächlich mal auf die Klimakleber treffen.
Die Gleichgültigkeit des Alltags aufbrechen
Eine weitere Absurdität der Debatte rund um die Letzte Generation: Die Allgegenwärtigkeit. An manchen Tagen kann es einem so vorkommen, als stünde die ganze Republik Montagmorgens auf der Berliner Stadtautobahn und warte auf Öl und Mullbinden. Kürzlich fühlte sich gar eine Provinz-Band aus dem fränkischen Landkreis mit dem bezeichnenden Namen “Haßberge“ berufen, ihrer Abneigung gegen die Aktivist:innen ein Denkmal zu setzen: Mit einem Musikvideo, in dem der Sänger vom Traktor aus Gülle auf einen Aktivisten spritzt. Dabei scheint es doch eher unwahrscheinlich, dass die Bandmitglieder tatsächlich mal beim Besuch in der Frankenmetropole Nürnberg in einem der dort seltenen Klebe-Staus stecken bleiben.
Wie kommt es, dass sich so viele Menschen von den Aktionen der Letzten Generation angegriffen fühlen? Simon Teune hat eine Antwort: „Es gibt einen grundsätzlichen Konflikt in der Gesellschaft.“ Einerseits wisse man sehr gut Bescheid über die Klimakrise und deren Folgen und auch darüber, wie wir mit unserem Alltag dazu beitragen. Andererseits gehe der nach wie vor so weiter, als wäre nichts gewesen.
Mit ihren Blockaden stelle sich die Letzte Generation dieser Gleichgültigkeit entgegen und mache den Konflikt sichtbar. „Die Letzte Generation zeigt, dass es den Leuten wichtiger ist, mit dem Auto pünktlich zur Arbeit zu kommen, als sich damit auseinanderzusetzen, dass die Welt, in der sie arbeiten, bald grundsätzlich anders sein wird“, erklärt Teune.
Auch wenn sich die Letzte Generation stets bemüht zu kommunizieren, dass sie mit ihren Aktionen eigentlich die Bundesregierung adressiert und nicht die einzelnen vom Stau Betroffenen: Der Öffentlichkeit wird so auch die eigene Mitschuld an der Klimakrise vor Augen geführt. Auto fahren, Flugzeug fliegen, Gas verheizen, Mode und Elektronik shoppen – das tun eben fast alle.
Irma Trommer wird weiter Straßen fürs Klima blockieren, sagt sie. Trotz der Gewalt, die sie fast mit Sicherheit wieder erleben wird. Immerhin: Die Wut, die daraus spricht, ist das Ende der Gleichgültigkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“