Gesundheitsversorgung in Gefängnissen: Krank im Knast
In deutschen Gefängnissen fehlt es an Geld, Personal und Medikamenten – mit teils dramatischen Folgen für die Häftlinge.
A ls Peter Bögel wie jeden Tag morgens um sieben von einem Justizbeamten der JVA Gablingen die Tabletten gereicht bekommt, hinterfragt er nicht, dass er eine Pille mehr als sonst erhält. Die Medikamente ähneln sich: in hellem Pink, die gleiche Größe. Bögel denkt sich nicht viel dabei.
Das Prozedere ist schließlich immer das gleiche: Der Beamte nimmt die Tabletten aus dem mit dem Namen des Häftlings beschrifteten Dispenser und reicht sie ihm. Er macht den Mund auf, nimmt einen Schluck Wasser, macht noch mal den Mund auf, um zu zeigen, dass er die Tabletten auch wirklich geschluckt hat. Der JVA-Beamte kontrolliert und zieht weiter zum nächsten Häftling. Ein Routinegang.
Doch an diesem Tag im August 2019 ist etwas anders. Ein Beamter holt ihn knapp drei Stunden später aus seiner Zelle und schickt ihn zur Krankenschwester der Anstalt. Bögel klagt über Schwäche, Herzstechen, Gleichgewichtsverlust. Er habe die falschen Medikamente ausgehändigt bekommen, sagt der Beamte. Die Schwester ruft den Notarzt.
Später notiert sie in einem Protokoll, das der taz vorliegt: „Der Allgemeinzustand des Gefangenen verschlechterte sich rapide.“ Nur dunkel erinnert sich Bögel an eine Person in orangefarbener Jacke, die sagt: „Herr Bögel, bleiben Sie da.“ Im Universitätsklinikum Augsburg wird festgestellt, dass die Sauerstoffsättigung des Patienten bei seiner Einlieferung bei nur 52 Prozent liegt.
Peter Bögel heißt eigentlich anders. Weil er seine Familie schützen will, möchte er anonym bleiben. Bögel, 52, kurze Hose, blaue Turnschuhe, blondgefärbte Spitzen und eine Goldkette um den Hals, ist ein freundlicher Mann. Seine Schilderungen wirken glaubhaft, die Aussagen decken sich mit den Schriftstücken des Rechtsanwalts.
Nach seiner Entlassung aus der JVA hat Bögel sich an den Rechtsanwalt Thomas Galli gewandt, um gegen die JVA Gablingen vorzugehen. Sein Vorwurf: Der Justizbeamte habe ihm an diesem Tag statt der normalen Blutdruckmedikamente einen Blutverdünner, Krampfmittel, Cholesterintabletten, Neuroleptika und das Methadon-Substitut L-Polaflux gegeben. Das Substitut ist ein Medikament eines anderen Häftlings, das eigentlich für Heroinabhängige oder bei schweren Schmerzen verwendet wird und starke Nebenwirkungen haben kann.
Die Dokumente der JVA, die der taz vorliegen, bestätigen die Medikation des anderen Häftlings. Durch den niedrigen Sauerstoffwert im Blut lässt sich jedoch nicht feststellen, ob Bögel tatsächlich ein Substitut verabreicht bekommen hat. Genauso gut kann es ein Zusammenspiel aus den fehlenden Blutdruckmedikamenten und den Neuroleptika sein, das Bögel in Gefahr gebracht hat. Er selbst erinnert sich an den Noteinsatz nur schemenhaft.
Der Oberarzt entlässt Bögel schon nach wenigen Stunden. Im Arztbrief steht, er könne „in stabilem und gebessertem Allgemeinzustand“ in ambulante Weiterversorgung entlassen werden. Von einer Anzeige sieht Bögel zunächst ab. Er fürchtet, etwa seine Hafterleichterungen zu verlieren oder gar die vorzeitige Entlassung zu riskieren.
Die JVA Gablingen räumt zwar ein, dass Bögel die falschen Medikamente ausgehändigt bekommen hat, bestreitet jedoch, ihm das Heroinsubstitut gegeben zu haben. Diese Medikamente würden in der JVA nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen ausgegeben.
Tatsächlich ist im Betäubungsmittelgesetz geregelt, dass nur medizinisch geschultes Personal oder staatlich anerkannte Drogenhilfeeinrichtungen Substitute ausgeben dürfen, nicht jedoch einfache JVA-Beamte. Bögel hingegen sagt, die Häftlinge hätten während seiner Haftzeit alle Medikamente regelmäßig von Beamten ohne Prüfung durch Fingerabdruck bekommen, auch die Substitute.
Fragt man die JVA, wie es dazu kommen konnte, dass der Häftling ein falsches Medikament verabreicht bekommen hat, spricht diese von einem „bedauerlichen Versehen“. Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Medikamenten könne leicht die Übersicht verloren gehen, sagt ein Sprecher. Bögel habe sich „zu keiner Zeit in Lebensgefahr“ befunden.
Weiter heißt es: „Die normale, aber insgesamt niedrig-normale Sauerstoffsättigung ist nach Einschätzung des ärztlichen Dienstes der Justizvollzugsanstalt Augsburg-Gablingen eher auf den langjährigen schweren Nikotinmissbrauch von Herrn Bögel zurückzuführen als auf die einmalige falsche Medikamentengabe.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ein Arzt des Leipziger Universitätsklinikums hingegen sagt der taz, der Sauerstoffwert im Blut sollte zwischen 95 und 99 Prozent liegen. So ist es auch in medizinischer Fachliteratur nachzulesen. Auch bei Raucher:innen ist ein Wert von 52 Prozent kein Normalzustand – sondern lebensbedrohlich.
Wie kann es passieren, dass Häftlinge falsche Medikamente ausgehändigt bekommen, die sie in Lebensgefahr bringen? Recherchen der taz zeigen, dass solche Vorkommnisse kein Einzelfall sind. Immer wieder gibt es in deutschen Gefängnissen Fälle, in denen Gefangene falsch oder unzulänglich medizinisch versorgt werden; fehlende Hepatitisbehandlungen, falsche Tuberkulosetests, Isolation gesunder Häftlinge aufgrund mangelnder Prüfung.
Strafe statt Behandlung
Ein Blick auf die Gesundheitsausgaben der vergangenen zehn Jahre in allen deutschen Bundesländern zeigt: Auch wenn die Ausgaben flächendeckend gestiegen sind, liegen sie in den meisten Bundesländern dennoch weit unter den durchschnittlichen Gesundheitsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen, obwohl der Bedarf in Gefängnissen oft weitaus höher ist. An vielen Stellen fehlt es an Medikamenten und medizinischem Personal. Gefangene in Deutschland sind Patient:innen zweiter Klasse.
Zum Stichtag 31. März 2019 waren laut Statistischem Bundesamt in Deutschland 65.796 Personen in Haft, was 90 Prozent der gesamten Belegungskapazität entspricht. Schon eine Auslastung von 85 bis 90 Prozent gilt im Strafvollzug als übervoll. Und das bundesweit. Seit der Föderalismusreform 2006 obliegt die Gesetzgebung des Strafvollzugs dem jeweiligen Bundesland.
Demnach gibt es keine einheitliche Regelung zur Gesundheitsversorgung, geschweige denn ein Gesetz zur Höhe der Gesundheitsausgaben oder des Personalschlüssels. Dessen ungeachtet muss der Staat eine medizinische Versorgung „nach dem allgemeinen Standard der gesetzlichen Krankenkassen“ sicherstellen. Dieser „Äquivalenzgrundsatz“ ist in den Strafvollzugsgesetzen der Länder klar formuliert.
Wenn ein Häftling krank wird, dann hat er im Gegensatz zu Kassenpatient:innen das Recht, schnellstmöglich eine Ärztin oder einen Arzt zu konsultieren, statt auf einen Termin zu warten. Die Ärztin untersucht, sie verschreibt vielleicht ein Medikament oder veranlasst eine Überweisung zu einem Facharzt. Eigentlich kein besonders schwieriges Verfahren.
Dennoch berichten Gefangene immer wieder von Mängeln in der Gesundheitsversorgung. Auch, weil die Medikamente zwar von medizinischem Fachpersonal in Dispenser gefüllt werden, die Ausgabe jedoch oftmals durch ungeschulte Beamt:innen erfolgt wie im Fall Bögel.
Das Äquivalenzprinzip werde häufig nicht eingehalten, sagen Kritiker:innen wie Christine Graebsch. Sie ist Professorin an der Fachhochschule Dortmund und Expertin für Straf- und Migrationsrecht. Außerdem vertritt sie immer wieder Gefangene als Verteidigerin. Als langjähriges Mitglied des Strafvollzugsarchivs hat sie unzählige Geschichten von Häftlingen begleitet. Sie sagt, die Gesundheitsversorgung in deutschen Justizvollzugsanstalten entspreche nicht dem bundesdeutschen Standard.
„Das Hauptproblem ist, dass der Strafgedanke sehr stark ist“, sagt Graebsch. „Das darf er aber bei der medizinischen Versorgung nicht sein.“ Oftmals werde Häftlingen eine medizinische Betreuung sogar verwehrt. Im Juni vertrat sie einen Gefangenen vor dem Amtsgericht Augsburg. Er hatte den Anstaltsarzt in der JVA Kaisheim im August 2019 wegen „Körperverletzung durch Unterlassen“ angezeigt und ihm vorgeworfen, eine Hepatitis-C-Behandlung verweigert zu haben.
Der Arzt hatte Gegenanzeige gestellt, die Staatsanwaltschaft den Gefangenen schließlich wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung angeklagt. Der Gefangene wurde freigesprochen. Gegen den Arzt hingegen wurde nie ermittelt.
Problem im System
Die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Gefangenen in den meisten Bundesländern liegen deutlich unter den Werten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Während die Ausgaben der GKV pro Kopf im Jahr 2019 bei 3.108 Euro lagen, waren es beispielsweise in Sachsen im Justizvollzug nur 1.942 Euro pro Person.
Das sächsische Justizministerium sagt auf taz-Anfrage, dass „ein Vergleich zwischen den Gesundheitskosten für Gefangene und den Gesundheitskosten der Allgemeinbevölkerung aber kaum möglich“ sei, und verweist auf Unterschiede in Alter, Geschlecht und Berechnung der Kosten.
Dennoch müssten die Zahlen bei Gefangenen deutlich höher sein. Denn die Mehrheit der Inhaftierten ist zwar jünger als der deutsche Durchschnitt, aber überdurchschnittlich vorbelastet. Viele sind substanzabhängig, haben schwere psychische Krankheiten.
„Nach meiner Erfahrung haben Inhaftierte einen überdurchschnittlich hohen medizinischen Behandlungsbedarf“, sagt der Rechtsanwalt Thomas Galli. „Die Haft ist eine Belastung für Körper und Seele. Eine hauptamtliche ärztliche Betreuung der Justizvollzugsanstalten ist daher dringend notwendig und letztlich ein Gebot der Menschenwürde.“ Es sei jedoch kein ernsthafter Wille da, das Problem zu lösen.
Galli, 47 Jahre, groß, graue Locken, schwarzes Hemd, weiß viel über deutsche Justizvollzugsanstalten. Zahlreiche Bücher zum Thema und Akten seiner Mandant:innen, vor allem Häftlinge und Ex-Häftlinge, stapeln sich in seiner Augsburger Kanzlei. Er ist einer der größten Kritiker des Systems Gefängnis.
Über mehrere Jahre war er Direktor der JVA Zeithain in Sachsen sowie für einige Monate Leiter der JVA Torgau. 2016 legte er die Leitung nieder und veröffentlichte seither mehrere Bücher, in denen er für eine Reform des Strafvollzugs wirbt. Galli sagt, die notwendige medizinische Betreuung werde in deutschen Gefängnissen zwar gewährleistet, dennoch gebe es ein „massives strukturelles Problem“.
In Schleswig-Holstein lagen die Gesundheitsausgaben in den Justizvollzugsanstalten zuletzt knapp 11 Prozent über dem GKV-Schnitt. Dass sie nicht noch erheblich höher sind, wunderte sogar den Landesrechnungshof. Gefangene hätten einen wegen der Lebensumstände und der Lebensführung prinzipiell höheren Behandlungsbedarf, heißt es in einem Ergänzungsbericht zum Landeshaushalt.
Schwierig wird es jedoch bei der gesamtdeutschen Vergleichbarkeit: Die Daten werden unterschiedlich erhoben, in manchen Bundesländern gibt es erst gar keine Dokumentation der Pro-Kopf-Ausgaben. Auch die Pro-Kopf-Ausgaben für Medikamente variieren stark: Wurden beispielsweise in Hessen in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt 768 Euro pro Häftling für Medikamente ausgegeben, waren es in Sachsen nur 343 Euro.
Karlheinz Keppler, Gefängnisarzt
Das hat konkrete Folgen. In den Jahren 2014 bis 2019 wurde bei 282 sächsischen Gefangenen eine Hepatitis-C-Erkrankung festgestellt – die Infektionskrankheit ist eine der häufigsten Krankheiten von Menschen in Haft. Doch nur 71 dieser Personen wurden auch während ihrer Haftzeit entsprechend behandelt.
Eine Fachärztin für Infektionskrankheiten verweist auf Nachfrage der taz auf sogenannte DAA-Therapien, die seit 2014 erfolgreich gegen Hepatitis C eingesetzt werden. Jede:r gesetzlich Versicherte würde im Falle einer Erkrankung eine solche Therapie erhalten, sagt die Expertin.
Die Kosten für eine DAA-Therapie fangen bei rund 30.000 Euro an. In Hessen zum Beispiel ist seit 2019 im Koalitionsvertrag festgehalten, dass jede:r erkrankte Inhaftierte eine moderne Hepatitis-C-Behandlung bekommen soll. Offiziell sollen auch in Sachsen Gefangene bei Bedarf eine solche Therapie erhalten, zugleich weist das zuständige Justizministerium darauf hin, nicht jede Hepatitisinfektion sei behandlungsbedürftig. Die Ärztin widerspricht.
Die Zahl unbehandelter Infektionskrankheiten unter sächsischen Gefangenen liegt sehr wahrscheinlich deutlich höher, wie aus den Antworten auf eine Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag vom Januar 2020 hervorgeht. Die offizielle Zahl von 282 erfassten Hepatitis-C-Fällen stammt aus einer äußerst lückenhaften Statistik. Vier von zehn sächsischen Justizvollzugsanstalten liefern erst seit 2017 Zahlen. In zwei weiteren Haftanstalten, darunter auch das einzige Haftkrankenhaus, wird laut Justizministerium gar keine Statistik geführt.
Auch andere medizinische Leistungen, die für Kassenpatient:innen in Freiheit üblich sind, sollen in sächsischen Gefängnissen mehrfach ausgeblieben sein. Krankenunterlagen, die die taz einsehen konnte, berichten von einem Gefangenen, der drei Jahre lang in Haft auf eine Schulteroperation wartete, bis er schließlich ohne OP entlassen wurde. Ein weiterer Gefangener der JVA Zeithain hätte physiotherapeutisch behandelt werden müssen – und wurde dies trotz ärztlicher Anordnung nicht.
Noch gravierender ist der Fall des Frauengefängnisses Chemnitz: 2019 wurden gesunde Frauen wegen Tuberkuloseverdachts präventiv in Einzelhaft isoliert und teilweise mit Medikamenten behandelt. Sieben Frauen wurden bis zu 13 Tage isoliert, fünf von ihnen erhielten zudem das Chemotherapeutikum Isoniazid.
Häufige Nebenwirkungen des Medikaments sind Nervenentzündungen, Sensibilitätsstörungen, Schwindel, Erbrechen und Muskelzittern. Weil Tuberkulose hoch ansteckend ist, muss jede:r neue Gefangene bei Haftantritt auf die Krankheit untersucht werden – entweder mit einem Bluttest oder mittels Röntgenuntersuchung. Beides sei laut Aussage einer Betroffenen in Chemnitz jedoch nicht passiert. Ein Röntgengerät gibt es in der Anstalt nicht.
Ein Sprecher des sächsischen Justizministeriums erklärt auf Anfrage: „Falls aus zwingenden Gründen die genannten Untersuchungen nicht durchgeführt werden können, kann ersatzweise ein Tuberkulose-Schnelltest zur Anwendung kommen.“ Die ergeben allerdings keine eindeutige Diagnose.
Auch aus anderen Gefängnissen in Sachsen berichten derzeitige und ehemalige Gefangene von massiven Mängeln. Vorgeschriebene Tuberkulosetests seien nicht erfolgt. Tests auf Hepatitis oder HIV seien nicht angeboten worden, obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist.
Das Bundesjustizministerium will sich zur Gesundheitsversorgung im Vollzug nicht äußern und verweist auf die Länderzuständigkeit. Doch nach Anfragen bei mehreren Bundesländern bleiben die Antworten auch von dort wenig detailliert. Konfrontiert man das sächsische Justizministerium, verweist man lediglich auf die allgemeinen Vorschriften.
Ein Sprecher des Ministeriums sagt der taz, die medizinische Versorgung sei „durchgängig gewährleistet“. Zwar gebe es Schwierigkeiten, Stellen im medizinischen Dienst zu besetzen, die dadurch entstehenden Lücken würden aber durch externe Ärzt:innen ausgeglichen. In fünf von zehn Haftanstalten in Sachsen gibt es keine:n festangestellte:n Ärzt:in.
„Es ist ganz schwierig, überhaupt Ärzte für den Justizvollzug zu finden“, sagt Karlheinz Keppler. Er gilt als einer der renommiertesten Gefängnisärzte in Deutschland. Als die taz ihn zum Gespräch anruft, ist er gerade 400 Kilometer von seinem Wohnort Berlin entfernt in der JVA Vechta und wartet auf Patient:innen. Obwohl er bereits im Ruhestand ist, springt er immer wieder als Honorararzt in diversen Gefängnissen ein.
Der Job wird etwa fünfmal schlechter bezahlt als eine Stelle im Krankenhaus und genießt nur wenig Ansehen. Etwa 13 Prozent der Stellen sind nicht besetzt oder müssen durch externe Honorarkräfte besetzt werden. Mit Folgen für die Gefangenen: Weniger Ärzt:innen bedeuten auch weniger Zeit für Patient:innen.
Falls ein Häftling ins Krankenhaus oder zu einer:m externen Ärzt:in muss, braucht es sechs Beamte pro Tag, die ihn oder sie bewachen – Ressourcen, die viele Anstalten schlicht nicht aufwenden können. Keppler sagt, dass in Notfällen auf jeden Fall gehandelt werde. „Aber natürlich werden in Zeiten von Personalmangel nicht zwingend notwendige Behandlungen verschoben.“
Die größte Anzahl der Häftlinge findet sich in JVAs in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg. Letzteres Bundesland setzt in der Gesundheitsversorgung seiner Gefangenen auf digitale Lösungen.
Wie gut ist gut genug?
Seit 2018 ist Baden-Württemberg Vorreiter im Bereich Telemedizin. Dabei werden externe Fachärzt:innen per Video zur Diagnose ins Gefängnis zugeschaltet – rund um die Uhr.
Eine ressortübergreifende Kommission der Landesregierung arbeitet an einem neuen Medizinkonzept für den Strafvollzug. Außerdem arbeitet das Justizsystem eng mit freien Trägern des Netzwerks Straffälligenhilfe und der Drogen- und Suchtberatung zusammen. „Baden-Württemberg steht dank dieser einzigartigen Strukturen bundesweit gut da“, schreibt eine Sprecherin des Justizministeriums auf Anfrage. Aber ist dieses „gut“ auch gut genug?
Claudia Kircher verbringt ihre halbe Arbeitswoche in der JVA Rottenburg. Sie ist Drogen- und Suchtberaterin seit mehr als 20 Jahren. In den Beratungsgesprächen mit ihren aktuell 40 Klienten spielt das Thema Gesundheit ständig eine Rolle. Krankheiten dominieren den Alltag von Gefangenen. Wenn Kircher nicht in der JVA ist, arbeitet sie in einem schmucklosen Büro in der Tübinger Weststadt. Ein großer Raum, Kunstteppich, keine Bilder, keine Pflanzen. Kircher, blondes schulterlanges Haar, rotes Shirt und blaue Jeans, redet langsam.
Grobe Mängel könne sie in der Gesundheitsversorgung der Gefangen zumindest in Baden-Württemberg nicht beobachten. „Die Anstaltsärztinnen behandeln die Häftlinge im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sie geben ihr Bestes“, sagt Kircher. Trotzdem bekomme sie als externe Beraterin auch manche Probleme der Gefangenen mit. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzt:in und Patient:in sei zum Beispiel nicht immer gegeben.
Komplexe Biografien, komplexe Anforderungen
Es gebe aber auch Gefangene, die ihr anvertrauten, dass der Strafvollzug ihnen das Leben gerettet habe. Einige verwahrlosten durch jahrelangen Alkohol- und Drogenkonsum und würden mit dem Besuch bei der Anstaltsärztin oft zum ersten Mal seit Jahren durchgecheckt. Dann komme Routine, regelmäßiges Essen, vielleicht ein Entzug oder Substitutionsprogramm.
Zudem haben viele der Gefangenen Traumata erlebt. Während die Rate der psychischen Auffälligkeiten in der Gesamtbevölkerung bei rund 28 Prozent liegt, ist dieser Wert hinter Gefängnismauern in ganz Deutschland meist fast doppelt so hoch. Drogen- und Alkoholsucht, Traumata und psychische Störungen, diese Krankheitsbilder machen die Anforderungen an den Strafvollzug komplex.
Und die Zahl psychischer Auffälligkeiten steigt. Diese Entwicklung legt auch die Häufigkeit der Belegung gesicherter Hafträume der JVAs nahe. Gefangene werden in diesen Räumen eingesperrt, wenn Fremd- oder Selbstgefährdungsrisiken drohen. Seit 2010 stieg die Zahl allein in Baden-Württemberg um das beinah Vierfache auf 1.119 Belegungen im Jahr 2018.
In einem überlasteten System kann dies tragische Folgen haben – wie im August 2014. Ein Wärter der JVA Bruchsal fand einen Gefangenen tot in seiner Zelle. Er litt an psychischen Störungen, die unbehandelt blieben, und starb an den Folgen einer Unter- oder Mangelernährung.
Hätte sein Tod bei entsprechender medizinischer Betreuung verhindert werden können? Der damalige Justizminister setzte eine Kommission zum „Umgang mit psychisch auffälligen Gefangenen“ ein. Im Abschlussbericht stellten die Expert:innen einen „dringenden Bedarf an Verbesserungen insbesondere in der personellen Ausstattung des Justizvollzugs“ fest. Zwar wurden in der Folge zahlreiche neue Stellen vom Justizministerium geschaffen, doch ist die Folgekommission noch heute damit beschäftigt, ein Konzept vorzulegen.
Überbelegte Zellen
Die JVAs erreichen weiterhin die Überlastungsgrenze. Im letzten Jahr waren nach Angaben des Statistischen Bundesamts 101 Prozent der zur Verfügung stehenden Plätze in Baden-Württemberg belegt. Das passiert, wenn Zellen mit mehr Menschen belegt sind, als es eigentlich vorgesehen ist. „Wir sind in jeder Hinsicht von Ressourcenknappheit geprägt“, sagt Matthias Weckerle, Anstaltsleiter der JVA Rottenburg. Ganze Gefängnisetagen könnten teilweise nur von einer Beamtin oder einem Beamten beaufsichtigt werden.
Um die begrenzten vorhandenen Zeit- und Personalressourcen gezielt einsetzen zu können, wird seit 2019 in allen 17 JVAs Baden-Württembergs die Telemedizin eingesetzt. Sie erlaubt, dass das Krankenpersonal zum verlängerten Arm externer Fachmediziner:innen wird.
Die Rückmeldungen der Gefangenen sind oft positiv. Größtenteils konsultierten sie die Telemediziner:innen wegen Angst- oder Schlafstörungen sowie Fragen zur Medikation. Nordrhein-Westfalen hat im Mai angekündigt, Telemedizin in zunächst sieben seiner Haftanstalten einzusetzen. Bewährt es sich, wird das Vorhaben auch hier auf alle 36 JVAs ausgeweitet. Auch in Sachsen wird derzeit die Möglichkeit geprüft.
Anstaltsleiter Weckerle hofft auf Lehren aus der Coronakrise. Einerseits wurden dadurch die Haftbedingungen für viele Gefangene verschärft, andererseits rund 800 Ersatzfreiheitsstrafen ausgesetzt oder aufgeschoben. Das betrifft beispielsweise Menschen, die wegen nicht bezahlter Geldstrafen inhaftiert werden. Auf einen Schlag waren also weniger Gefangene in Haft. Die Personal- und Belegungssituation entspannte sich. Deshalb müsse ein Zurück zur Überbelegung jetzt vermieden werden.
Das Häftlingsstigma
Wenn man den Anstaltsarzt Karlheinz Keppler fragt, ob die Gesundheitsversorgung in deutschen Gefängnissen flächendeckend mangelhaft sei, antwortet dieser mit einem „Nein, aber“. Die Qualität der Versorgung variiere von Bundesland zu Bundesland und von Arzt zu Arzt stark. Gefangene mit Suchtproblemen und unter Substitution haben eigentlich das Recht, einmal die Woche von einem:r Ärzt:in gecheckt zu werden.
Doch nicht immer wird das auch umgesetzt. „Es gibt Ärzte, die sagen: So etwas wie Substitution gibt es bei mir nicht“, sagt Keppler. Insbesondere Bayern habe sich lange Zeit dagegen gewehrt, überhaupt zu substituieren. Erst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2016 änderte dies.
Keppler fordert daher eine Abschaffung des Betäubungsmittelgesetzes und sagt, ein Problem wie Sucht könne man nicht gesetzlich, sondern nur medizinisch regeln. Die Forderung deckt sich mit den Erfahrungen aus der Coronakrise, dass Gefängnisse deutlich entlastet sind, wenn Ersatzfreiheitsstrafen ausgesetzt werden: weniger Häftlinge, weniger Überlastung des Personals. „Die Knäste wären halb leer, wenn man die Suchtleute nicht einsperren würde.“
Auch die Dortmunder Expertin Christine Graebsch sagt, das Problem lasse sich nicht etwa mit mehr Personal lösen. Den Gefangenen hafte ein Stigma an, das sich auch auf die Gesundheitsversorgung auswirke. „Besonders unter Anstaltsärzten ist die Haltung sehr verbreitet, dass Gefangene selbst schuld sind an ihrer Situation oder gar simulieren“, sagt sie, insbesondere hinsichtlich Personen mit Suchtproblematik. Ihr Vorschlag: eine unabhängige Kommission, die die Versorgung in den Gefängnissen beobachtet und Fehler untersucht.
Fazit
Probleme gibt es also dreierlei: fehlende Regulierung und Kontrolle, zu wenig Personal für zu viele Häftlinge und eine Ungleichbehandlung von Gefangenen gegenüber Nichtgefangenen in der medizinischen Versorgung.
Peter Bögel ist inzwischen aus dem Gefängnis raus, arbeitet als Fahrer für eine Spedition. Er wünscht sich, dass die Anstalt ihren Fehler eingesteht – und daraus Konsequenzen zieht. Gemeinsam mit seinem Anwalt fordert er nun Schmerzensgeld. Vor allem will er aber erreichen, dass die Medikamentenausgabe in der JVA besser reguliert und von medizinischem Fachpersonal ausgeführt wird.
Die strukturellen Probleme unterscheiden sich zwischen den Bundesländern, sind jedoch in ganz Deutschland zu beobachten. Was es braucht, ist eine bundesdeutsche Evaluation und Regelung, damit Zahlen vergleichbar, Versorgung kontrollierbar und Mängel sichtbar werden.
Denn der Grundgedanke von Justizvollzugsanstalten liegt im Vollzug von Haftstrafen, nicht in der Behandlung von Gefangenen als Patient:innen zweiter Klasse.
Die Fotos: Die freie Fotografin Nora Börding fotografierte 2018 im Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg in NRW, um zu zeigen, wie sich der dortige Alltag von dem in einem normalen Krankenhaus unterscheidet. Diese Fotoarbeit entstand unabhängig vom vorliegenden Text.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen