Gesellschaft: Rechtsdrall im Klassenzimmer
Angesichts hoher Umfragewerte für die AfD wird auch das wahrscheinlicher: Lehrkräfte, die versuchen, Schülerinnen und Schüler auf rechte Parteilinie zu bringen. Eine Mutter schildert in Kontext, was ihr Sohn im Unterricht zu hören bekommt. Kultusministerium und Bildungsverbände tappen im Dunkeln.
Von Jürgen Lessat
Die Empörung war groß, als bekannt wurde, dass die AfD auf der Didacta präsent ist. Als „fatalen Fehler“ bezeichnete es ein breites Bündnis, dass diese Partei mit einem eigenen Stand Flagge zeigt auf der größten Bildungsmesse Europas, die noch bis Sonntag in Stuttgart stattfindet. Im Kontext des Messe-Leitthemas „Demokratiebildung“ sei es untragbar, „einer derart extremen Partei eine solche Plattform zu geben“, mahnten Bundesschülerkonferenz, Bundeselternrat und Bildungsverbände.
Laut Umfragen wird bei der Bundestagswahl am 23. Februar jede/r Fünfte die in Teilen rechtsextreme Partei wählen. Da drängt sich die Frage auf: Sind Lehrerzimmer in Schulen noch AfD-freie Zonen? Sind Lehrkräfte immun gegen rechtes völkisches Gedankengut?
„Die AfD ist längst in der Schule präsent“, sagt Andrea Meisner (alle Namen von der Redaktion geändert), die mit ihrer Familie in einem Vorort von Stuttgart lebt. Sie hat sich an Kontext gewandt, weil an der Schule ihres 16-jährigen Sohnes Louis rechte Narrative verbreitetet werden. Nicht auf dem Pausenhof unter Klassenkameraden, sondern im Unterricht durch Sabine S., Lehrerin für Geschichte und Gemeinschaftskunde (GGK). „Die Lehrerin zeigt unverhohlen ihre Sympathie zu einer Partei – nämlich zur AfD“, sagt Meisner.
Lehrerin verbreitet AfD-Narrative
Seit Anfang des Jahres ist der GGK-Unterricht Gesprächsstoff in ihrer Familie. Denn seitdem rückte die Bundestagswahl in den Fokus der wöchentlichen Doppelstunden. Es ging um Kandidaten, Wahlkampf, Umfragen, mögliche Koalitionen. Doch über die einzelnen Parteien, deren Wahlprogramme und Spitzenkandidaten informierte Lehrerin S. auffällig einseitig, berichtete Louis seiner Mutter. Die Zukunft Deutschlands sei desaströs, sollten die „Altparteien“ erneut die nächste Bundesregierung stellen, orakelte demnach die Lehrerin. Besonders schlecht weg kamen die Grünen: „Die Energiepolitik der Grünen ist ruinös für die Wirtschaft“, soll S. im Unterricht gesagt haben.
Daneben stellte die Pädagogin offenbar Behauptungen auf, die Narrativen gleichen, die auch die AfD verbreitet. So insinuierte Sabine S. vor der Klasse, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland gefährdet ist. Unliebsames würden hierzulande von Regierung und Mainstream-Medien unterdrückt. Stattdessen würde das Volk absichtlich mit Unwahrheiten in die Irre geführt.
Ein weiteres Anzeichen für den politischen Rechtsdrall gibt eine Mail, die Sabine S. Mitte Januar an Louis‘ Klasse schickte. Meisner zückt ihr Handy und öffnet die Mail. In der Betreff-Zeile kündigte S. einen „Link Parteienprogramme“ an. Doch der führt zwar auf das Bundestagswahlportal der Landeszentrale für politische Bildung, dort aber direkt und nur zum Wahlprogramm der AfD.
Offenbar geriet der Unterricht zur Verschwörungserzählung, als der russische Überfall auf die Ukraine zur Sprache kam. „Die Lehrerin hat den Krieg als Verteidigungskrieg Putins dargestellt. Weil die Nato auf ukrainischem Staatsgebiet an der Grenze zu Russland angeblich Raketen stationiert hat“, gibt Meisner wieder, wie S. den völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine begründete. Russland wehrt sich nur gegen den westlichen Aggressor – ein zynisches Märchen, das in bestimmten Kreisen bis heute kursiert. „Mit falschen oder aus dem Zusammenhang gerissenen Behauptungen versucht Frau S. offensichtlich, die heranwachsende Schülerinnen und Schüler in ihrem Sinne zu manipulieren“, sagt Andrea Meisner, „so etwas macht mich fassungslos und wütend.“
Schüler wählen Alice Weidel zur Bundeskanzlerin
Meisner erzählt von einer Probeabstimmung zur Bundestagswahl im Unterricht. Diese gewann AfD-Kandidatin Alice Weidel mit absoluter Mehrheit. „Neun Stimmen“, dokumentiert der Tafelaufschrieb. Auf den weiteren Plätzen landete Unionskandidat Friedrich Merz mit sechs Stimmen, Habeck von den Grünen kam auf zwei Stimmen. SPD-Amtsinhaber Olaf Scholz ging leer aus. Alles nicht so wild? „Einige Schüler sind inzwischen volljährig und dürfen bei der Bundestagswahl das erste Mal wählen“, erwähnt Meisner. Als Lichtblick wertet sie, dass es in der Klasse einige Enthaltungen gab. Den teils kruden Aussagen ihrer Lehrerin zu widersprechen, hätten sich die Schülerinnen und Schüler nicht getraut. „Da überwiegt die Angst vor schlechter Benotung oder Bloßstellung vor der Klasse“, vermutet die Mutter.
Wie viele der rund 150.000 Lehrinnen und Lehrer an Schulen im Südwesten mit Parteien am politischen Rand sympathisieren, ist unklar. Auch, wie häufig extremistische Narrative in Unterrichtsstoffe einfließen. Hierzu lägen keine abschließenden statistischen Daten oder Auswertungen vor, heißt es aus dem Baden-Württembergischen Kultusministerium. Es handele sich aber um „absolute Einzelfälle“, schreibt der Sprecher von Ministerin Theresa Schopper (Grüne) auf Anfrage.
Auch die großen Bildungsverbände stochern bei diesem Thema im Nebel. „Wir können das nur grob schätzen“, sagt Jens Linek, Sprecher vom Landesverband Bildung und Erziehung (VBE). Intern taxiert man die potenzielle AfD-Wählerschaft in der Lehrerschaft auf fünf bis zehn Prozent. Laut Landesverband Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind das ebenfalls „wenige Einzelfälle“.
Lehrer müssen nicht neutral sein
An den Schulen werde nicht weggeschaut, wenn Schüler:innen, Lehrkräfte, Eltern oder andere Personen im schulischen Umfeld rechte Positionen vertreten, glaubt die GEW. „Mit den Schüler*innen- und Elternvertretungen, den Gesamtlehrkräftekonferenzen und der Schulkonferenz haben wir wirksame Instrumente, um auf Diskriminierung und Hetze reagieren zu können“, betont GEW-Landesvorsitzende Monika Stein. Dennoch müsse die politische Bildung weiter gestärkt und vorhandene Präventionsprogramme ausgebaut werden. Schulsozialarbeit müssean allen Schulen selbstverständlich sein, so Stein.
Schule hat einen demokratischen Bildungsauftrag. Lehrkräfte sollen demokratische Werte wie Würde und Gleichheit aller Menschen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität vermitteln. Wenn es um politische Bildung geht, müssen sich Lehrkräfte keineswegs neutral verhalten. „Im Unterricht müssen sie politische Sachverhalte jedoch ausgewogen und sachlich behandeln. Nach dem Erziehungs- und Bildungsauftrag und den Beamtengesetzen ist es Aufgabe der Lehrkräfte, für die freiheitlich demokratische Grundordnung aktiv einzutreten und mithin extremistische, menschenverachtende oder antidemokratische Positionen zurückzuweisen“, so Schoppers Sprecher. Ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot liege darin nicht vor. „Die Schulen wurden zuletzt vor dem Hintergrund der anstehenden Bundestagswahlen 2025 über diese Rechtslage informiert“, ergänzt er.
Doch was, wenn Lehrkräfte im Unterricht extremistisch abdriften? „Betroffene sollten sich zunächst an die Schulleitung wenden. Diese geht den Vorwürfen nach und bindet bei Bedarf die Schulaufsichtsbehörden ein. Der Beschwerdeweg zu den Schulaufsichtsbehörden besteht ebenfalls“, rät das Kultusministerium. Je nach Art und Schwere der dienstlichen Verfehlung und unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles kommen als Disziplinarmaßnahmen Verweis, Geldbuße, Gehaltskürzung, Degradierung bis zur Entfernung aus dem Dienst in Frage. Die Regierungspräsidien prüfen und entscheiden, ob gegen die Verfassungstreue oder das Mäßigungsgebot verstoßen wurde. Sie sind es auch, die erforderlichenfalls ein Disziplinarverfahren einleiten und durchführen. Im Rahmen der Ermittlungen können diese im Einzelfall auch eine Anfrage an das Landesamt für Verfassungsschutz richten, ob eine Lehrkraft gegen die Pflicht zur Verfassungstreue verstößt. „Wir ermutigen alle in der Schulgemeinschaft zu Zivilcourage. Rechte Hetze darf nicht ignoriert werden“, appelliert die GEW-Vorsitzende Stein. „Extremismus jedweder Art hat an unseren Schulen nichts verloren. Wir erwarten von unseren Lehrkräften, dass sie demokratische Werte vertreten. Wenn extremistische Vorfälle bekannt werden, gehen die Schulaufsichtsbehörden diesen nach“, versichert Kultusministerin Schopper.
Andrea Meisner hat inzwischen die Schulleitung darüber informiert, was Sohn Louis über den Unterricht erzählt hat. Man nehme ihr Schreiben sehr ernst und prüfe derzeit den Sachverhalt, lautet die Antwort.
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