: Geschickt verpackt
■ Betr.: „Kauft kein Atomkraft werk!“, taz vom 11.3.94
[...] Was kümmert es uns – und Sie –, daß andere Boykotte gegen vergleichbare Mischkonzerne mit vergleichbaren Zielen schon sehr erfolgreich waren? Was kümmert es uns, daß auch heute noch Kinder an Nestlé-Babynahrung sterben und der Boykott deshalb weltweit fortgesetzt wird? – Wo Sie Nestlé für uns doch so einfach zu einem „früheren Milchpulversünder“ machen können?
Am nachhaltigsten beeindruckt uns aber doch die inhaltliche Brillanz Ihres Gedankenganges zu den Siemens-Konkurrenten, die schließlich alle auch nicht besser sind. Geschickt verpackt, was Sie damit zwischen den Zeilen durchscheinen lassen: Würde Siemens durch den Boykott seine Atomgeschäfte beenden, würden ganz einfach andere Atomfirmen einspringen. Klasse, Frau Riedel, eine dümmere Ausrede ist auch Siemens-Boß Heinrich von Pierer nicht eingefallen – aber genau die gleiche! Nach dieser Logik ist uns nun endlich klar, daß wir auch Rüstungskonzerne nicht mehr für ihre Mörderwaffen kritisieren dürfen – weil auch da schon die anderen Produzenten warten.
Prima auch Ihr Vorschlag an die Boykott-Initiative, ein „Produktverzeichnis mit den politisch korrekten Einkaufs- und Verhaltensalternativen“ herauszugeben. Macht ja nichts, daß die Initiative damit gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen würde und deshalb von Siemens garantiert – und mit besten Erfolgsaussichten – verklagt werden würde! Sie als Redakteurin einer (irgendwie doch eigentlich mal) linken Zeitung dürfen eine Öko-Initiative ruhig in die Pfanne hauen, machen Sie sich da bloß keine Vorwürfe!
Und das Allergrößte, liebe Frau Riedel, ist Ihre grundsätzliche Abkehr von allem Wissen über Massenkommunikation. Wie hat es uns beeindruckt, daß Sie mit keinem einzigen Satz diskutieren, ob ein Boykottaufruf gegen Atom-Siemens nicht schon allein durch seine Aufklärungsarbeit politisch wirksam – und sinnvoll – sein könnte! Denn wen interessiert es schon, daß die Boykottkampagne Hunderttausende über die Gefahren der Atomenergie und die Rolle des Atommonopolisten Siemens informiert, während der Rest der Anti-Atom-Bewegung den Schlaf der Gerechten schläft? Sebastian Scholz, Köln
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