Geschichte: Der Sprung über die Mauer nach Osten
Vor 20 Jahren besetzten Westberliner das Lenné-Dreieck am Potsdamer Platz, das auf DDR-Gebiet lag. Am 1. Juli 1988 wurde es Westberlin übergeben
Am nördlichen Ende des Potsdamer Platzes beginnt New York: Streng ragt das im Stil amerikanischer Art-déco-Häuser gebaute "Beisheim-Center" in die Höhe. Im Ritz-Carlton und im Mariott wird nobel gewohnt, im "Midtown Grill" gespeist, zum Tiergarten hin bieten "Parkside Apartments" luxuriöses Wohnflair. Kaum vorstellbar, dass dort vor 20 Jahren die größte Massenflucht über die deutsch-deutsche Grenze stattgefunden haben soll - von Westen nach Osten.
Sebastian Schädler war dabei, als es das Lenné-Dreieck genannte Gebiet zwischen Lenné-, Ebert- und Bellevuestraße zu kurzem Weltruhm brachte. Für fünf Wochen im Frühjahr 1988 gab es die "Freie Republik Kubat", das kurioseste Besetzerprojekt der Republik. Auf 40.000 Quadratmetern lebten Westberliner Alternative in Zelten und Holzhütten - auf Ostberliner Territorium.
Das mit wild wuchernder Vegetation bedeckte Stück Osten, das auf einer Seite von der Mauer begrenzt in den Tiergarten ragte, war typisch für die absurde Berliner Insellage. Im Rahmen eines umfangreichen Gebietsaustausches mit der DDR sollte es zum 1. Juli für 76 Millionen D-Mark in Besitz des Westens gelangen. Der Senat wollte dort seine umstrittenen Autobahn-Pläne für eine "Westtangente" samt Tiergarten-Untertunnelung verwirklichen.
Das aber wollten die BesetzerInnen verhindern. Mitglieder der Bürgerinitiative Westtangente und Naturschützer, aber auch Autonome, Punks und Mitglieder der Kreuzberger Spaßguerilla KPD/RZ tummelten sich an dem Ort, den sie zu Ehren eines verstorbenen 1.-Mai-Demonstranten Kubat-Dreieck nannten. Die Motive für die Besetzung waren höchst unterschiedlich. Für den damals 24-jährigen Sebastian Schädler war das Kubat-Dreieck der Eintritt in die linke Szene Westberlins. Der FU-Student und Berlin-Neuling gehörte nicht zu den Umweltschützern. "Ich sympathisierte mit allem, was den Senat ärgerte", sagt er heute.
Das Dreieck war Stadtgespräch und die Polizei konnte nichts dagegen tun - sie durfte ja nicht auf DDR-Territorium eingreifen. Das begann in der Regel bereits drei Meter vor der Mauer, dieses sogenannte Unterbaugebiet war für die Westpolizei Tabu. Die DDR-Grenzpolizei drohte erst mit Räumung, ließ die Besetzer dann aber gewähren. Westberlin, im gleichen Jahr sowohl europäische Kulturhauptstadt als auch Austragungsort der IWF-Tagung, blamierte sich vor aller Welt. Für Schädler ein Grund, das Kubat-Dreieck zu unterstützen: "Immer wenn eine Polizeiaktion drohte, schaute ich vorbei - aus Solidarität." Zum Schlafen ging er aber doch lieber nach Hause.
Der damals 24-jährige Stefan warf sich dagegen von Anfang an voll ins Besetzerleben, schon im Mai kam er direkt von einer gescheiterten Hausbesetzung an den Potsdamer Platz. "Einmal ging ich noch kurz nach Hause, packte Schlafsack und Isomatte ein. Dann lebte ich permanent auf dem Gelände", sagt der noch heute als "Info-Stefan" bekannte Szeneaktivist. Seinen Job als Plakatkleber schmiss er, um mit einem Megafon bewaffnet über das Gelände zu laufen und Dinge zu regeln: Baumaterial organisieren, Plena im "Rudi-Dutschke-Zelt" vorbereiten oder einen Richtungsstreit zwischen gewaltbereiten "Mollies" und friedensbewegten "Müslis" schlichten.
Zu tun hatte er immer. Das tägliche Leben auf dem Kubat-Dreieck war trotz Gemeinschaftsküche und abendlicher Musik am Lagerfeuer ein tägliches Ringen. "Alles, was es in Berlin jenseits von CDU und FDP gab, war auf dem Gelände", fasst Stephan Noé seine Erinnerungen ans Kubat-Dreieck zusammen. Noé, der 1988 für die Alternative Liste im Charlottenburger Bezirksparlament saß, fungierte nach außen als Sprecher der Besetzer. Der Minimalkonsens, der Hunderte zusammengewürftelter AktivistInnen von innen zusammenhielt, hieß: "Wir bleiben - und zwar so lange wie möglich."
Für den Zusammenhalt sorgte nicht zuletzt das martialische Auftreten der Westberliner Polizei, die das Gelände oft stundenlang mit Tränengas und Wasserwerfern beschoss. "Es gab regelrechte Schlachten", erinnert sich Info-Stefan: "Von außen flogen Gasgranaten, wir antworteten mit Mollies und demontierten den Zaun, mit dem man versuchte, uns einzusperren." Stefan Noé, der wie viele andere morgens zur Arbeit ging, erinnert sich an nächtelangen, systematischen Schlafentzug durch Beschallung mit dem Queen-Song "We are the Champions". Stand der Wind ungünstig, beschwerte sich auch die DDR offiziell über den Tränengasnebel, der bis in die Parteibonzenwohnungen an der Wilhelmstraße drang.
Wie verunsichert die Polizei gewesen sein muss, zeigt der Vorfall mit der Holzpistole: Damit klopfte ein Besetzer schlafenden Streifenbeamten aufs Autodach. Die gerieten in Panik - tagelanger Tränengasnebel und Boulevard-Schlagzeilen von gefährlichen Waffennarren waren die Folge.
Das übertrieben harte Vorgehen der Polizei führte zu einer Welle der Solidarisierung mit den Besetzern. Die nahegelegene Wagenburg in der Köthener Straße lieferte Wasser und Gasflaschen, Westberliner brachten Milch und Brötchen vorbei, die Alternative Liste spendete Legehennen und Ziegen. Zwischen 200 und 600 Menschen hielten sich auf dem Gelände auf, auch immer mehr Touristen kamen, um sich vor Ort ein Bild vom bunten Besetzerleben zu machen. Sie wurden über den "Ho-Chi-Minh-Pfad" zwischen den Hütten durchgeführt, bestaunten den Piratensender "Radio Sansibar" und das Plumpsklo. Durch die Führungen und Souvenirs, wie verzierte Tränengaskartuschen mit der Aufschrift "Grüße vom Kubat-Dreick", kam reichlich Geld in die Kasse. Doch reich wurde die Gemeinschaft dadurch nicht: "Der Kassenwart wirtschaftete in die eigene Tasche", erinnert sich Info-Stefan. Es war derselbe Mann, der später den Alternativsender Radio 100 in die Insolvenz trieb. Auf dem Höhepunkt der Popularität drohte die Stimmung zu kippen. "Spätestens als nach der New York Herald Tribune auch Wiener und Playboy anklopften, wurde es komisch", sagt Info-Stefan.
Gleichzeitig rückte das Ende der "Freien Republik Kubat" näher: Am 1. Juli wurde die Gebietsübergabe wirksam - es war abzusehen, dass die Westberliner Polizei die erste Gelegenheit zur Räumung nutzen würde. Die harte Politszene verdrückte sich drei Tage vorher, um nicht ins Visier der Polizei zu geraten. Wer blieb, war entschlossen, zu kämpfen - oder in den Osten zu gehen.
Der Sprung über die Mauer war für viele eine Alternative. Mitglieder des Westberliner SED-Ablegers SEW bereiteten die Genossen jenseits der Mauer bereits auf die einzigartige Massenflucht gen Osten vor. Man vertraute darauf, als Verfolgte des imperialistischen Klassenfeinds freundlich aufgenommen zu werden. Sebastian Schädler war einer der knapp 200 Menschen, die im Morgengrauen auf selbst gebastelten Leitern die Mauer erklommen, um den anrückenden Westpolizisten zu entgehen. "Wir kletterten ohne Eile, einer nach dem anderen. Drüben hüpften wir auf die Ladeflächen bereitstehender Lastwagen", erinnert sich Schädler.
Die Westflüchtlinge wurden in Gruppen verteilt und an verschiedenen Orten zum Frühstück empfangen. Schädler landete mit anderen in einer NVA-Kantine, in der schon Erbsensuppe mit Würstchen und Kaffee bereitstanden. Die Suppe schmeckte Schädler, nicht aber, was danach folgte: "Erst gab es eine Begrüßungsrede, dann wurde die Internationale angestimmt. Fast alle sangen mit - zusammen mit den Uniformierten! Da kamen mir Zweifel, ob der Sprung über die Mauer richtig war." Der Student, der vor der Staatsmacht West geflohen war, musste nun von der Staatsmacht Ost seine Personalien aufnehmen lassen.
Am frühen Vormittag wurden die Kubat-Besucher zum Grenzübergang Friedrichstraße gebracht, wo sie mit der U-Bahn in den Westen fahren konnten. Fürsorglich wurde Schädlers Rückkehrergruppe über Fahrkartenkontrollen informiert, mancherorts sollen die Grenzpolizisten sogar gültige Fahrscheine ausgegeben haben. Denn die BVG lauerte an den Grenzbahnhöfen auf Verdächtige, die ohne Tickets aus dem Osten kamen.
Sebastian Schädler nahm einen Umweg, um schließlich unbehelligt in seiner Charlottenburger Wohnung anzukommen. Für ihn war das Abenteuer damit zu Ende. Sein Ausflug in den Osten ist dem 43-Jährigen heute etwas peinlich, ein DDR-Freund war er nie, wie er betont. Trotzdem würde er es wieder tun: "Das Signal gegen den Senat war wichtig."
Für Stephan Noé und Info-Stefan kam der Mauersprung nicht in Frage, sie misstrauten der DDR-Führung. Info-Stefan durchwachte mit den wenigen Verbliebenen die Nacht trommelnd am Lagerfeuer. Als die Polizei mit 900 Mann, Wasserwerfer und Räumfahrzeugen einrückte, schlich er sich ins Gebüsch und blieb unbemerkt.
Während er vom Unterbau aus "mit Tränen in den Augen" die Demolierung des Hüttendorfes beobachtete, blieb Stephan Noé einfach mitten auf dem Gelände stehen. Zu seiner Erleichterung ignorierten ihn die Räumtrupps - so konnte der ehemalige Besetzersprecher rechtzeitig zu seinem neuen Job als Sprecher der Alternativen Liste antreten. Nach 37 turbulenten Tagen war der Traum aus. Noé wertet die Besetzung trotzdem als Erfolg: "Wir konnten zwar nichts verhindern, aber wir haben in diesem Sommer eine Duftmarke in der Stadt gesetzt."
Während die "Freie Republik Kubat" für Noé "nur eine Fußnote" in seiner Biografie ist, war die Zeit für andere prägend. Sebastian Schädler fand am Potsdamer Platz sein Lebensthema: Männerarbeit gegen Sexismus. Schockiert von Besetzern, die Polizeibeamten "Ich fick deine Frau" entgegenschrien, gründete Schädler mit anderen ein Männercafé. Was als Engagement gegen Sexismus in der linken Szene begann, ist für den Medienpädagogen zum Beruf geworden.
Auch Info-Stefan erinnert sich mit Unbehagen an das "Mackergehabe" der männlichen Besetzer, das er rückblickend auch an sich selbst kritisiert. Er warnt vor einer medialen Verklärung der "Freien Republik Kubat" im Jubiläumsjahr: "Das war keine Mustergemeinschaft, es ging dort weder frei noch gerecht zu."
Stasi-Spitzel und Militarismus-Fanatiker gibt es heute auf dem Stück Land, das wieder Lenné-Dreieck heißt, nicht mehr. Aber immerhin auch keine Autobahn - in den 90er-Jahren erklärte der Senat die Westtangentenpläne endgültig für gescheitert. Das steinerne New York mit dem Beisheim-Center können die Exbesetzer aber nicht akzeptieren, wie Sebastian Schädler sagt: "Eine Autobahn wäre mir lieber gewesen als diese Steinwüste."
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