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„Gerechtigkeit für Imre Nagy“

Nach 30 Jahren die erste größere Gedenkdemonstration für den hingerichteten Ministerpräsidenten / Die neue ungarische Parteiführung reagierte mit brutalen Polizeieinsätzen  ■  Aus Budapest Hubertus Knabe

Bei Demonstrationen für eine Rehabilitierung des vor 30 Jahren hingerichteten ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy ist es am Donnerstag in der Budapester Innenstadt zu brutalen Polizeieinsätzen gekommen. Damit sind die Hoffnungen enttäuscht, daß es unter der erst vor wenigen Wochen neugewählten, reformorientierten Parteiführung mit Ministerpräsident Karoly Grosz an der Spitze zu einem grundlegenden innenpolitischen Kurswechsel in Ungarn kommen würde.

Ungarische Oppositionelle hatten am Vortag in einem Aufruf die „vollständige moralische, politische und juristische Rehabilitierung“ der Opfer gefordert, die nach der Niederschlagung des Volksaufstandes unter dem früheren Parteichef Janos Kadar hingerichtet oder verfolgt wurden (siehe taz vom 16.Juni). Die ungarische Führung hält bis heute geheim, wo die Leichen der rund 3.000 damals Hingerichteten, unter ihnen auch zahlreiche Jugendliche, bestattet liegen.

Ein Großteil von ihnen soll auf einem verwilderten Winkel des Neuen Gemeindefriedhofs ohne Kennzeichnung verscharrt worden sein. Dort versammelten sich deshalb am Donnerstagvormittag rund 200 Menschen, um der Toten zu gedenken.

Einer der Demonstranten las die Namen von rund 280 Hingerichteten vor - die meisten von ihnen Arbeiter oder Bauern. Am Nachmittag sollte dann auf einem Platz in der Budapester Innenstadt eine Gedenkdemonstration stattfinden. Starke Polizeikräfte schirmten den Ort jedoch ab und schleppten unter Schlägen die Oppositionellen Gabor Demszky, Gaspar Miklos Tamas und Viktor Orban vom Platz.

Ähnlich erging es dem ehemaligen Vorsitzenden des Budapester Arbeiterrates von 1956, Sandor Racz, als er auf dem Heldenplatz einen Kranz niederlegen wollte. Die 300 bis 400 Demonstranten zogen daraufhin mit Rufen wie „Gerechtigkeit für die ungarische Revolution“ zum Gebäude des Ungarischen Fernsehens. Kurz darauf stürmten Polizisten mit Gummiknüppeln den Platz und nahmen eine Reihe von Demonstranten fest. Zu einer weiteren Ansprache und einem anschließenden Polizeieinsatz kam es auch auf dem nahen Vorosmarty-Platz. Die genaue Zahl der von der Polizei Festgenommenen oder Verletzten ist bislang nicht bekannt; viele wurden jedoch schon wenig später wieder auf freien Fuß gesetzt. Nach Ansicht von Oppositionellen ist der Verlauf der Imre-Nagy-Gedenkdemonstrationen für die neue ungarische Parteiführung ein politisches Fiasko. „Sie müssen eine Lösung in dieser Frage finden“, sagte der Schriftsteller Istvan Eörsi zur taz, „sie kommen auf die Dauer nicht daran vorbei, irgendeine Art von Rehabilitierung vorzunehmen“.

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