: Gerader Rücken – oft falsch
■ Eine Bremer Gymnastiklehrerin und Sozialpädagogin kritisiert die Rückenschul-Konzepte und das Menschenbild aus den 60ern, das dahinter steckt
Ute Seemann bringt selbst erfahrene BetriebsärztInnen zum Zweifeln. Denn die 36jährige Gymnastiklehrerin und Sozialpädagogin ist eine überzeugte und überzeugende Kritikerin des allgemeinen Rückenschul-Konzeptes. Während Krankenkassen und immer mehr Betriebe zur Vorsorge auf Rückenschulungs-Kurse setzen, bläst Ute Seemann schon zum Angriff dagegen: Das Konzept, in dem es um „richtige“ oder „falsche“ Haltung gehe, sei von gestern, sagt sie – und der präventive Nutzen von Rückenschulen noch gar nicht erwiesen. Die taz will nun wissen, was Rückenkranken da noch bleibt.
Was ist denn so verkehrt an der Rückenschule? Die ganze Nation macht doch mit.
Ute Seemann: Man muß wissen, daß das Konzept der Rückenschule aus den 60er Jahren stammt und nur für Rehabilitation und Therapie gedacht war – und dafür ist es ja gut. Es basiert auf Messungen, die schwedische Biomechaniker an Leichenpräparaten vornahmen. So fand man heraus, bei welcher Körperhaltung wieviel Druck auf die Bandscheiben wirkt. Aber entsprechende Untersuchungen am lebendigen Körper gibt es nicht.
Für die allgemeine Prävention ist das Rückenschul-Konzept nicht geeignet, denn wenn man Bewegungsverhalten schult, kann man nicht nur einen Körperteil beachten. Man muß mit dem ganzen Körper arbeiten, von den Beinen über den Rücken, die Knie, die Arme bis zum Kopf. Da muß man sich von der Forderung nach einem geraden Rücken verabschieden – der Rücken muß sich bewegen.
Ist gerade Haltung also verkehrt?
In bestimmten Situationen muß man den Rücken schon entlasten und auch gerade halten. Aber das Geradehalten darf nicht eine von zehn feststehenden goldenen Rückenschul-Regeln sein. In manchen Situationen ist der gerade Rücken sogar sehr ungünstig.
Zum Beispiel?
Wer im Bett liegt und mit gerader Wirbelsäule hochkommen möchte, spannt den Bauch an, um mit einem Ruck hochzukommen. Bewegungserfahrung lehrt dagegen, sich zur Seite zu rollen, dabei den Rücken ruhig krumm zu machen, das Gesicht zum Boden hin zu wenden und sich dann in einer rollenden Bewegung aufzurichten.
Wieso setzt denn die ganze Nation auf das falsche Pferd, wie Sie meinen?
Es liegt am Weltbild: Seit dem 17., 18. Jahrhundert stellen wir uns den Menschen ja eher als Maschine vor, vor allem den sogenannten Bewegungsapparat. Deshalb wurde nie untersucht, wie Bewegung sich eigentlich aus sich selbst heraus organisiert.
Meinen Sie, aus sich selbst heraus würde der Mensch sich richtig bewegen – und dann nicht krank?
Es geht nicht um richtige oder falsche Bewegung. Ich würde von einer angemessenen Bewegung sprechen – und die kann ich nur herausfinden, wenn ich viel ausprobiere und spüre, was mir gut tut. Wer sich in bestimmte Haltungen reinzwängt, die von außen vorgegeben werden, kann sogar Schmerzen bekommen. Aber viele beißen die Zähne zusammen, weil sie meinen, sie müßten die Muskeln solange schulen, bis die Bewegung klappt. Das halte ich für sehr problematisch.
Ist also auch das allseits hochgelobte Muskeltraining nicht angebracht?
Da muß man sorgsam unterscheiden. Wenn jemand das Knie beispielsweise verletzt hat, dann muß es natürlich ruhig gestellt werden. Dabei baut sich die Muskulatur ab – für diesen speziellen Fall ist es wichtig, Muskulatur gezielt aufzutrainieren. Aber sobald die Muskulatur sich wieder angemessen verhält, muß man weitersehen.
Gilt das auch für den Bandscheibenvorfall?
Richtig. Allerdings ist der Bandscheibenvorfall, der Prolaps, viel seltener als alle glauben. Die Vorwölbung der Bandscheibe, vergleichbar mit einer Muskelzerrung, ist viel häufiger und die kann wieder ausheilen. Daß man viel trainieren muß, wenn man solch einen Hexenschuß hatte, stimmt vor allem dann, wenn man mehrere Wochen gelegen hat.
Sie sagen, trainieren ja – aber nicht in der Rückenschule, weil die zu starr in das Schema richtig-falsch preßt. Welche Möglichkeiten gibt es sonst?
Auch bei Rückenschulen muß man unterscheiden. Die klassisch-orthopädische Rückenschule beispielsweise lehrt, wie man die Bierkiste am besten hochhebt, oder daß man mit geradem Rücken staubsaugen soll. Einzelne TeilnehmerInnen sollten nachspüren, ob es dieser Rat war, den sie brauchten. Auch in der Rückenschule gibt es unterschiedliche Ansätze. Ich empfehle, ruhig viel auszuprobieren und dabei auf das eigene Empfinden zu vertrauen. Wer merkt, daß er sich unwohl oder eingeschränkt fühlt, sollte weitersuchen. Viele bewegungstherapeutische Ansätze tun Gutes: fernöstliche Methoden, Tanztherapie oder Feldenkrais beispielsweise. Mittlerweile haben ja sogar die Krankenkassen ihr Angebot auf Feldenkrais oder Eutonie erweitert.
Heißt das, daß die Rückenschule auch schon bei den Kassen in die Kritik geraten ist?
Für die Kassen kann ich nicht sprechen. Aber Evaluationsstudien belegen, daß sich das Bewegungstraining der Rückenschulen langfristig nicht etabliert. Wer TeilnehmerInnen von solchen Kursen zwei Jahre später befragt, erfährt, daß sie ihr Verhalten gar nicht geändert haben. Da hat sich das selbstgemäße Verhalten wieder etabliert...
... das aber unter Umständen Schmerzen verursacht.
Genau, dann steht man wieder am Anfang. Deshalb geht es ja darum, Kurse und Bewegungsangebote zu suchen, die Orientierung und Unterstützung bieten, um eingeschränkte Bewegungsgewohnheiten zu ändern. Wenn ich Kurse gebe, staune ich manchmal, wie wenig manche Menschen den Rücken einsetzen. Viele benutzen nur die Arme, wenn sie beispielsweise nach dem Aktenordner greifen. Dabei bewegt sich der Rücken, die Brustwirbelsäule und der Lendenwirbelbereich bei jedem kleinen Alltagshandeln. Es ist ein ganz dynamisches Geschehen.
Also ist der Mensch gar keine Fehlkonstruktion, weil er sich von vier Beinen auf zwei erhoben hat? Das wird doch immer wieder behauptet.
An der Stelle kritisiere ich die klassische Rückenschul-Literatur von Krämer, Brügger oder Kempf ganz besonders. Dort wird behauptet, daß der aufrechte Gang eine Fehlkonstruktion sei, weil, wer aufrecht geht, gegen die Schwerkraft zu kämpfen hätte.
Ich schließe mich da anderen Menschenbildern und Theorien an, die besagen, daß sich unsere Bewegungsorgane angemessen entwickelt haben. Aufrichtung bedeutet doch, daß man beweglicher wird, daß man sich jemandem gut zu- oder daß man sich abwenden kann. Das heißt, der aufrechte Gang ist eine uns gemäße Entwicklung. Dadurch verfügt der Mensch über eine Fülle an Kommunikationsmöglichkeiten und Handlungskompetenzen.
Das ist meine These: Wie wir mit Bewegungsverhalten oder Schulung von Bewegungsverhalten umgehen, hängt mit unserem Menschenbild zusammen. Wenn wir meinen, daß unser Bewegungsapparat „nicht richtig“ ist, dann entwickeln sich natürlich ganz andere pädagogische Prämissen, als wenn man sagt, so wie wir gebaut sind, ist es gut. Fragen: Eva Rhode
Zum Weiterlesen: Ruthy Alon, Leben ohne Rückenschmerzen – Bewegen im Einklang mit der Natur; Moshe Feldenkrais, Bewußtheit durch Bewegung – der aufrechte Gang.
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