■ China und Indien: „Vertrauenbildendes“ Abkommen: Gemeinsam hinab in die Ebenen des Pragmatismus
Wo die Bergwelt am höchsten ist und die Luft am dünnsten, stehen sich seit Jahrzehnten meist fröstelnde Soldaten gegenüber: an der 3.800 Kilometer langen Grenze zwischen Indien, Tibet und China. Der genaue Grenzverlauf ist umstritten. Seit nach zahlreichen Scharmützeln Ende 1962 die Auseinandersetzungen zum Krieg eskalierten und China Teile der Region Ladakh besetzte, begannen Peking und Delhi, immer mehr Soldaten in die wunderschöne, aber unwirtliche Landschaft zu schicken. Bis heute sind es Hunderttausende. Die wurden ab und zu angewiesen, sich gegenseitig zu provozieren. Zuletzt kam es anläßlich eines indischen Manövers im Jahre 1987 zu Kampfhandlungen.
Doch mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der alten Blöcke wurde der Grenzkonflikt zunehmend disfunktional. Und die Finanzierung der dort stationierten Truppen wird schlicht zu teuer für die beiden Regierungen, die für die Modernisierung ihrer Wirtschaft und ihres Militärs viel Geld brauchen. Als erste der beiden Streitparteien zog Indien vergangenes Jahr die Konsequenz und 35.000 Soldaten aus der Grenzregion zurück.
Das gestern getroffene Abkommen über „vertrauensbildende Maßnahmen“ zur Sicherung von „Frieden und Ruhe entlang der bestehenden Kontrolllinien“ ist ein wunderbares Beispiel für den Sieg des Pragmatismus über unbequeme Prinzipien. Man konnte sich über die Grenzlinien nicht einigen: also redet man nicht darüber und bildet eine Kommission, die noch lange weitertagen kann. China versorgt Pakistan, den ungeliebten Nachbarn Indiens, mit Raketentechnologie und hilft ihm bei der Entwicklung seines Nuklearprogrammes: ein unangenehmes Thema, ausklammern.
Angesichts der wachsenden Furcht in Asien vor einer Aufrüstung Chinas auf der einen Seite und einer unberechenbaren Entwicklung im indisch-pakistanischen Verhältnis auf der anderen ist jeder Schritt, der zur besseren Kommunikation zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt führt, zu begrüßen. Allerdings kann ein solches Abkommen wohl kaum Modell für die pragmatische Lösung von Grenzkonflikten an anderen Ecken der Welt sein, schließlich leben in den umstrittenen Gebieten kaum Menschen.
Bleibt Tibet: Nach dem Einmarsch chinesischer Truppen in Tibet 1951 und der folgenden Annexion erkannte Delhi die Oberhoheit Chinas über die Himalayaregion an. Zugleich aber gestattete es den geflohenen TibeterInnen, eine Exilregierung in Nordindien zu gründen. Das Schicksal Tibets bleibt ein heikles Problem zwischen Indien und China. Unangenehm vor allem für Peking, da der Dalai Lama in jüngster Zeit immer mehr Gehör in der internationalen Öffentlichkeit findet. Über Tibet sei im Zusammenhang mit der jüngsten sino-indischen Verständigung nicht geredet worden, heißt es aus Peking. Der Dalai Lama hatte Indiens Premier Rao vor seiner Reise nach China noch gebeten, sich für seine Landsleute einzusetzen. Fragt sich, ob der neue Pragmatismus zwischen Indien und China nicht auf Kosten Tibets geht. Jutta Lietsch
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