: Gelobt, bedroht, auferstanden
Nach drei Jahren Pause feiert das Festival „Theaterformen“ in Hannover seine Auferstehung. Mit einem Programm, das das Fenster zum Welttheater aufstoßen will
Das Gespräch ist vorbei, das Tonband abgestellt, aber Stefan Schmidtke erzählt noch lange weiter. Der neue künstlerische Leiter der „Theaterformen“ ist zu ernsthaft bei der Sache, um das Festival mit wenigen Schlagworten beschreiben zu wollen. Zu vielfältig sind die 14 eingeladenen Theaterarbeiten aus fünf Kontinenten, die sich mit der Frage kultureller Identität befassen – und zu vielfältig ist die Geschichte des Festivals selbst.
Immer wieder hochgelobt, immer wieder bedroht, totgeglaubt im Jahr 2004, nachdem die Landeszuwendungen komplett gestrichen wurden. Der Initiative des Braunschweiger Bürgermeisters und einigen glücklichen Fügungen ist es zu verdanken, dass „Theaterformen“ neu aus der Taufe gehoben wurde und gleich wieder große Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Schmidtke, Jahrgang 1968, ist für vier Jahre als künstlerischer Leiter berufen. Er hat an der Theaterakademie in Moskau Regie studiert, an der Baracke des Deutschen Theaters Berlin und in Stuttgart gearbeitet und zuletzt die Reihe für ungewöhnliche Theaterentwürfe bei den Wiener Festwochen verantwortet. Als großer Festivalleiter hat er noch keinen Namen, aber die Stationen wirken wie Etappen auf dem Wege dorthin.
Schneller als andere Theatermacher war er jedenfalls: Alle 14 von ihm eingeladenen Arbeiten sind Erst- oder Uraufführungen, die danach weiter auf Gastspielreise gehen oder wie im Fall von „Pornographie“, Simon Stephens‘ Stück über die Londoner Terroranschläge, ins Repertoire des Schauspiels Hannovers und des Hamburger Schauspielhauses aufgenommen werden. Neben den Gastspielen gibt es unter dem Titel „Culture is our weapon“ eine internationale Theaterwerkstatt, und die Bühnenbildnerin Katharina Grantner hat für den Innenhof des Schauspielhauses eine Wolke entworfen, die das Festival in Hannover optisch sichtbar machen soll. „Das Schwierigste an einem internationalen Festival ist der nicht mitreisende Kontext der Stücke und der sich neu entwickelnde Kontext vor Ort“, sagt Schmidtke, deshalb habe er beim Herumreisen geschaut: Gibt es hier etwas, was man in Hannover nicht kennt? Was für ein Programm könnte die Kulturszene bereichern und erweitern?
Ganz ohne große Regie-Namen geht das nicht. So wird ganz am Schluss des Festivals „Der schwarze Engel“ zu sehen sein, in dem am Ende der Schwarze Ismael mit der blinden weißen Geliebten lebt, der er eingeredet hat, der einzige weiße und reine Mensch zu sein. Der Berliner Volksbühnenchef Frank Castorf hat den Roman von Nelson Rodrigues vor kurzem in São Paulo mit brasilianischen Schauspielern inszeniert. Umgekehrt wird die brasilianische Theatergruppe AfroReggae, die aus den Favelas stammt, mit niedersächsischen Jugendlichen Spielszenen erarbeiten – beides Projekte, die die eigene Identität im Spiegel des anderen erkunden wollen.
Zum Auftakt wird nächsten Sonntag jedoch „Nach dem Regen...“ von Le Cirque Désaccordé gezeigt. Der Nouveau Cirque ist in Frankreich eine Zirkus-Kunstgattung, die sich den Einflüssen von Performance und bildender Kunst längst geöffnet hat und bei uns jedoch nur sehr langsam wahrgenommen wird. Mit Artisten zu starten ist eine Entscheidung, die durchschimmern lässt, dass Stefan Schmidtke einige Jahre mit der kürzlich verstorbenen Festivalleiterin Marie Zimmermann gearbeitet und bei ihr gelernt hat. Im Jahr 2000, als sie zum zweiten Mal die „Theaterformen“ leitete, zeigte sie zum Start indonesisches Schattentheater mit Gamelan-Musik. Jetzt also Nouveau Cirque. Könnte ein gutes Omen sein für eine erfolgreiche Festival-Belebung.
SIMONE KAEMPF
vom 10. bis 24. 6., Abschluss mit „Der schwarze Engel“, Regie Frank Castorf, am 23./24. 6. im Schauspielhaus Hannover, Programm: www.theaterformen.de kultur SEITE 14