: Gekippte Klischees
Aufmerksame Beobachtung wie auch humorvolle Beschreibung verfestigter Vorurteile: In „Die Legende vom typisch Deutschen“ befasst sich Béatrice Durand mit dem Alltag dies- und jenseits des Rheins als Ausdruck kultureller Wertvorstellungen. Jetzt liest sie im Literaturzentrum
Am Anfang war das kulturelle Missverständnis. Béatrice Durand hat es oft erlebt: als Französin in Deutschland und als Deutschland-Erfahrene in Frankreich. Der Ärger über verfestigte Vorurteile und abgehangene Stereotype, denen sie in vielen Gesprächen und Alltagssituationen begegnet ist, veranlasste sie schließlich, das Buch Die Legende vom typisch Deutschen zu schreiben, das sie jetzt im Literaturzentrum vorstellt.
Durand ist mit einem Deutschen verheiratet und lebt seit über zehn Jahren in Berlin. Ursprünglich in aufklärender Absicht für ein französisches Publikum geschrieben, schien ihr das Buch wegen seines französischen Blicks von außen dann auch für das Selbstbild der Deutschen erkenntnisreich.
Ihre Herangehensweise ist an der ethnographischen Technik der teilnehmenden Beobachtung orientiert. Die Autorin betont ausdrücklich, nur repräsentative Phänomene beschreiben und nur Aussagen über das „zeitgenössische Deutschland“ machen zu wollen. Genauer: über den Alltag, den sie als Ausdruck und Deutungsfläche kultureller Wertvorstellungen begreift.
„Die Erziehung wirft fundamentale Fragen auf: Die Definition des Individuums, seiner Berufung, seiner Beziehung zum anderen und seines Platzes innerhalb der Gesellschaft.“ Deshalb setzt Durand hier an. Außerdem ist sie „inspiriert“ durch die praktische Erfahrung als Mutter zweier Kinder, die, zwischen Deutschland und Frankreich pendelnd, mit zwei unterschiedlichen Erziehungsidealen konfrontiert wurde. In einer Mischung aus aufmerksamer Beobachtung und humorvollen Beschreibungen erlebter Situationen gelingt es der Autorin, grundlegende Unterschiede in den Vorstellungen von Kindheit und Elternschaft aufzuzeigen – und deren Bedeutung für das Selbstbild und Verhalten der späteren Erwachsenen darzulegen.
Während in Deutschland das Kind oft den eindeutigen Lebensmittelpunkt der Mutter darstelle und sich eine gute Mutter durch größtmögliche Opferbereitschaft auszuzeichnen scheine, müsse sich französische Mutterliebe nicht durch diese Art der Entbehrung auszeichnen, das Kind werde selbstverständlicher in den Alltag integriert. Aber der soziale Druck, Beruf und Familie zu meistern, sei dafür größer. Und während in der École maternelle schon kleine Kinder ganztags betreut werden, gilt eine deutsche Mutter, sollte sie ähnliche Regelungen anstreben, immer noch reichlich schnell als „Rabenmutter“ – ein Vorwurf, den auch Béatrice Durand selbst zu hören bekam.
Es geht ihr darum, Bezüge herzustellen zwischen der „Rabenmutter“ hier und der École maternelle dort; diese zu erweitern und zu deuten, um so kulturelle Missverständnisse zu (er)klären. Und Klischees zu kippen: etwa das des arbeitswütigen, autoritätshörigen und sentimentalen Deutschen. Der Gefahr, dass auch sie wieder neue Stereotype formulieren könnte, begegnet Durand mit eingeschobenen Differenzierungen und der Offenlegung der Problematik. Ihre Stärke liegt in der doppelten Perspektive, die sie für die Vor -und Nachteile beider Wertesysteme sensibilisiert hat – und die einen offenen Blick auf Alternativen in beiden Ländern ermöglicht.
Carola Ebeling
Béatrice Durand: Die Legende vom typisch Deutschen. Eine Kultur im Spiegel der Franzosen. Leipzig 2004, 192 S., 14,90 Euro. Lesung: Fr, 10.6., 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38