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Gegen eine utopische Verfassungsdebatte

Zum Verhältnis von Staatsvertrag und Verfassungsfrage  ■ D O K U M E N T A T I O N

Art. 1, Abs. 3 des Staatsvertragsentwurfs bezeichnet als Grundlage der anzusteuernden Wirtschaftsgemeinschaft die „soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien“. Sodann erfolgt eine Erläuterung dessen, was soziale Marktwirtschaft im wesentlichen meint, nämlich Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen. Ferner hat derartige Marktwirtschaft den „Erfordernissen des Umweltschutzes“ Rechnung zu tragen. Wie ist denn nun das Soziale der sozialen Marktwirtschaft zu fassen, wenn es in Art. 1, Abs. 3 des Arbeitspapieres überhaupt nicht umschrieben wird? Wir schauen in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 und finden dort im Art. 14 (zum Stichwort Eigentum und Erbrecht) den Hinweis, daß Eigentum verpflichte: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (Art. 14 (2) GG Hervorhebung d. Verf.) Das Grundgesetz benennt also an keiner Ecke die soziale Marktwirtschaft als die bindende und allein seligmachende Wirtschaftsordnung, dennoch öffnet es mit der Gleichzeitigkeitsmaxime des individuellen und sozialen Nutzens von Eigentum einen Rahmen, innerhalb dessen eine soziale Marktwirtschaft konzipiert werden kann, zudem definiert sich die Bundesrepublik in Art. 20 GG ausdrücklich als „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, was gemäß Art. 79 (3) GG - ebenso wie die Unantastbarkeit der Würde des Menschen zur unveränderlichen Substanz der grundgesetzlichen Ordnung zählt. Mit der Menschenwürde und den Menschenrechten wird somit ein individueller, personenbezogener substantieller Teil definiert, während der demokratische und soziale Rechtsstaat die Kernsubstanzen der zugehörigen institutionellen und politischen Ordnung festschreibt.

Das vorliegende Arbeitspapier für die Gespräche mit der DDR zeigt, daß die CDU/CSU-FDP-Koalition vergessen hat, daß das Grundgesetz keine definitive Festschreibung einer bestimmten Wirtschaftsordnung vornimmt. Hat sich die Öffentlichkeit schon seit einigen Jahren daran gewöhnt, daß die neokonservative wertpolitische Interpretation gegen eine „Geisteshaltung grübelnden Kleinmuts“ (H. Kohl) mehr und mehr Eingang in das Grundgesetzverständnis nimmt, so wird jetzt die Chance der Stunde der Exekutive im Zusammenhang mit der hergestellten Dynamik des Beitritts nach Art. 23GG beim Schopfe gegriffen, um der wertpolitisch anlaufenden Uminterpretation endlich auch materielle Substanz nachzuordnen.

Das erwähnte Arbeitspapier für die Gespräche mit der DDR geht definitiv von der sozialen Marktwirtschaft aus und bestimmt demzufolge auch in seinem vierten Absatz die Sozialgemeinschaft durch eine „entsprechende Arbeitsrechtsordnung“ (so als gäbe es eben nur eine) und zusätzlich durch „ein auf den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhenden umfassenden System der sozialen Sicherung“. Hier taucht, wenngleich nachgeordnet - und das heißt auch untergeordnet -, eine Erläuterung dessen auf, was das Soziale an der sozialen Marktwirtschaft sein kann. Allerdings ist die Bezeichnung des Sozialen als Arbeitsrechtsordnung und als sozialer Ausgleich vergleichsweise trivial, denn hieraus ergibt sich keine zwingende Konkretisierung eines der Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes. Dem entspricht, daß Art. 2 des Arbeitspapieres zwar ein Bekenntnis zur freiheitlichen, demokratischen und sozialen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland einschließt, dessen Gewährleistung jedoch „insbesondere“ an ökonomische klassisch-liberale individualkapitalistische Prämissen bindet (Handels-, Niederlassungs-, Gewerbefreiheit). Zuzüglich wird die Freizügigkeit aller Deutschen im gesamten Geltungsbereich dieses Vertrages erwähnt, was vor diesem Hintergrund nur bedeuten kann, daß das Humankapital dem Finanzkapital an denjenigen Ort zu folgen habe, wo letzteres sich zu realisieren gedenkt, zum Beispiel in Form von Produktionsstätten.

Die Freizügigkeit der Deutschen wird im übrigen von Art. 11GG geregelt und zugleich in Absatz 2 eingeschränkt, wenn solche Fälle eintreten, „in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden.“ Auch die „Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung“ erlauben es, die grundsätzlich garantierte Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet beziehungsweise im Gebiet der beiden Vertragspartner BRD und DDR einzuschränken. Es wäre interessant zu wissen, ob diese Einschränkungsklausel für den Fall der in der DDR nach Ansicht aller sachkundigen Beobachter und Kommentatoren drohenden Massenarbeitslosigkeit und der daraus möglicherweise resultierenden Massen-Freizügigkeit (go west) szenarienhaft bereits erprobt wird.

Insbesondere ist an derartigen Fragen diejenige Öffentlichkeit interessiert, die, politisch und sozial durch die SPD und die Gewerkschaften vertreten, an der Realisierung der sozialen und demokratischen Rechtsstaatlichkeit interessiert ist. Die Differenz dieser politischen Grundnorm zur jetzt festzuschreibenden ökonomischen Grundnorm der sozialen Marktwirtschaft ist eine, die aufs Ganze geht. Denn eine politische Norm ermöglicht es, Rechte in geregelten Verfahrensordnungen zur Konfliktaustragung überprüfen zu lassen, und Rechtsansprüche politisch auszugestalten. Das Grundgesetz verzichtet bewußt auf eine individuelle Präzisierung dessen, was mit dem Titel des demokratischen und sozialen Rechtsstaats gemeint ist, und stellt die Ausgestaltung zur politisch-parlamentarischen Disposition. Selbst extremismustheoretisch ist bislang die Substanz einer sozialen Marktwirtschaft nicht als die Verfassungssubstanz genannt worden. Verlagert sich aber das Soziale weg vom demokratischen Rechtsstaat zur Marktwirtschaft, dann taucht es ein in die Beliebigkeit vorpolitisch bestehender sozioökonomischer Interessen und Machtkonstellationen. Daran ändert nichts, daß Art. 1, Abs. 4 des Arbeitspapieres auf eine Arbeitsrechtsordnung und auf das Prinzip des sozialen Ausgleichs im Konext der Leistungsgerechtigkeit hinweist. Gerade die Vagheit dieser Formulierungen sollte vielmehr erläutert werden - was es bedeutet, wenn ein politisch gestaltbares Feld aus dem Einfluß der Politik herausgenommen wird. Diese Entpolitisierung charakterisiert grundsätzlich die Problematik der Gestaltung des Beitritts der DDR, sie erfährt am Punkt der sozialen Marktwirtschaft als Verfassungsziel ihre besondere Pointe. Es ist zu hoffen, daß in der Bundesrepublik wie in der DDR nicht alle „linken“ und „alternativen“ Kräfte und Denker im Ausmalen eines „DM -Nationalismus“ und einer utopischen Verfassungsdiskussion verstrickt sind. Deklamatorische Klauseln wie das Recht auf Arbeit oder die Forderung nach einem demokratischen Verfassungsdiskurs erscheinen angesichts der präzisen Intentionalität des geplanten Staatsvertrages als eine andere Variante der Entpolitisierung der Beitrittsdiskussion, die im Zusammenspiel mit der neokonservativ-liberalen Variante der Entpolitisierung alle Aussichten auf Erfolg trägt. Das kann dazu führen, daß möglicherweise das deklamatorische Recht auf Arbeit akzeptiert wird (bestenfalls eröffnet dies einen Zugang zur Arbeitslosenhilfe und -unterstützung), daß gleichzeitg aber die Möglichkeiten einer politischen Offenhaltung des Staatsziels demokratischer und sozialer Rechtsstaat aus der Welt geschafft wird.

Auch in der DDR müßte erkannt werden, daß eine Beteiligung an dieser Diskussion wichtiger ist als die an derjenigen über die Umtauschquoten, deren 1:1 vorgaukelt, es könne und solle eine Bestandsgarantie gegeben werden. Gerade zur sozialen Marktwirtschaft gehört es, daß derartige Garantien nicht gegeben werden. Es käme deshalb darauf an - initiiert und getragen von SPD und DGB -, schnell und nachhaltig eine politisch relevante und öffentlich vertretene Gegenposition für die soziale und demokratische Rechtsstaatlichkeit, für die Interpretation der Verfassungsgrundsätze selbst als Bestandsgarantie gegen die Aufkündigung des Minimalkonsenses an politischer Demokratie zu initiieren.

Eike Hennig

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