piwik no script img

Gegen den diffusen Sog der Angst

Identitätsprobleme haben Hochkonjunktur, und sie erzeugen Angst. Der englische Professor Zygmunt Bauman beschreibt zwei Ursachen dieser Angst: das Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen in den europäischen Staaten, das scheinbar verbindliche Werte in Frage stellt, und die individuelle Krise, hervorgerufen durch unsichere Arbeitsplätze. Welche Erfolge die Prediger nationaler Homogenität und die Verfechter einwanderungsfeindlicher Maßnahmen auch haben – Europa wird vielen Kulturen Raum geben. Gerade darin sieht Zygmunt Bauman die Chance für Experimente und Kreativität.

Identitätsprobleme. Hinter dieser Begrifflichkeit mit Hochkonjunktur verbergen sich Schwierigkeiten verschiedener Art, verschiedenen Ursprungs. Da gibt es zunächst das zunehmend verworrene Problem der kollektiven Identität unter den Bedingungen des zunehmenden kulturellen Pluralismus und des engen Nebeneinander vielfältiger Traditionen und Lebensstile. Die moderne Geschichte war immer von kultureller Pluralität begleitet, aber auf dem Höhepunkt der Partnerschaft von Staat und Nation galt diese gewöhnlich als vorübergehende Störung, die mit dem unvermeidlichen Zusammenbruch lokaler Sitten und Traditionen sowie der Assimilation der fremden Elemente an einen einheitlichen nationalen Körper verschwinden müßte. Inzwischen ist deutlich geworden, daß ein Ende der Pluralität nicht absehbar ist. Die Koexistenz alternativer Kulturen wird uns ebenso erhalten bleiben wie der Mangel an Wertkombinationen, die als verpflichtend und bindend für alle anerkannt werden. Diese Erkenntnis stellt die Frage der kollektiven Identität in ein völlig neues Licht. Die traditionellen und modernen Methoden des Umgangs damit lassen sich nicht mehr anwenden.

Es gibt jedoch noch einen anderen Aspekt der „Identitätsprobleme“ – einen Aspekt, der mit dem zunehmend unsicheren individuellen Lebensunterhalt zusammenhängt. Vor zwanzig Jahren hatten achtzig Prozent der Beschäftigten in Großbritannien sichere Arbeitsplätze. Sie waren gegen plötzliche und ungerechtfertigte Entlassungen versichert und blickten einer sicheren Zukunft in Form von Versorgungs- und Rentenansprüchen entgegen. Heute können sich nur noch dreißig Prozent solcher Arbeitsplätze rühmen. Einige Länder – zum Beispiel Deutschland – versuchen sich nach Kräften gegen diesen Strom zu stemmen. Die Aussichten auf Erfolg sind nicht gerade überzeugend.

Die Zahl der Arbeitenden, die nach wie vor die alte Sicherheit genießen, bröckelt überall schnell ab, während praktisch alle neuen Arbeitsplätze vorübergehend oder befristet sind. Nehmen wir die neue Zerbrechlichkeit der Familienverbände hinzu, die Brüchigkeit der Beziehungen, Unbeständigkeit der Wohnverhältnisse, die atemberaubende Geschwindigkeit im Wechsel der angestrebten Lebensweisen und des Marktwerts der Fertigkeiten und erworbenen Fähigkeiten – dann läßt sich mühelos verstehen, warum das Gefühl der Unsicherheit so überwältigend ist.

Diese beiden Seiten des „Identitätsproblems“ hängen nicht notwendigerweise zusammen. Ängste, die diesen beiden Seiten entspringen, müssen sich nicht gemeinsam entwickeln. Es besteht keine gemeinsame Ursache für die Krise der kollektiven und individuellen Identität. Und dennoch – psychologisch neigen beide Angsttrends zu Konvergenz und Überlappung. Unsicherheit wird gemeinhin als totaler Zustand empfunden, als Ausgangspunkt für Nervosität und verzweifelte Suche nach Lösungen, die häufig in keinem Zusammenhang mit den Problemen stehen. Man könnte sagen, daß die komplexe Erfahrung der Ungewißheit ein beträchtliches Ausmaß an diffuser Angst, an Furcht und freiströmender Aggression auslöst. Die Lösung der individuellen Identitätskrise wird häufig in der postulierten Sicherheit der kollektiven Identitäten gesucht.

Eine solche Umleitung wird noch wahrscheinlicher, da die Ursachen der individuellen Unsicherheit weit schwerer zu erkennen sind als die vorgeblichen Bedrohungen für die kollektive Sicherheit: Die beharrliche und ärgerliche Anwesenheit von Ausländern, Fremden, ist überall unübersehbar. Unvertraute, ausländische Arbeitskollegen, Nachbarn oder Passanten werden daher leicht zum böswilligen und bedrohlichen Fremden.

Es gibt einen weiteren, eng damit zusammenhängenden Grund für die Wahrscheinlichkeit dieser Umleitung: Da die individuelle Unsicherheit in anonymen, entlegenen oder schwer greifbaren Orten wurzelt, wird nicht unmittelbar deutlich, was die lokalen Mächte denn tun könnten, um den gegenwärtigen Zustand zu korrigieren. Hingegen scheint es für die Probleme im Zusammenhang mit der kollektiven Identität eindeutige Antworten zu geben: etwa die Schließung der Grenzen für Einwanderer, die Verschärfung des Asylrechts oder Abschiebung unwillkommener Ausländer. Die Regierungen können ihren Bürgern nicht guten Gewissens eine sichere Existenz und gesicherte Zukunft versprechen. Doch sie können zumindest für den Augenblick einen Teil der angehäuften Angst ableiten, indem sie ihre Energie und Entschlossenheit demonstrieren, gegen ausländische Arbeitsuchende und andere Eindringlinge in vormals saubere und vertraute einheimische Regionen zu Felde zu ziehen.

In der Sprache der stimmenfangenden Politiker übersetzen sich die allgemeinen Empfindungen der Unsicherheit in das Thema von Recht und Ordnung (das heißt Sicherheit für Gesundheit, Wohnung und Eigentum). Und diese Frage von Recht und Ordnung wird mit der Anwesenheit ethnischer, rassischer und religiöser Minderheiten vermischt.

Auf beiden Seiten des politischen Spektrums verbindet sich der Krieg gegen das Verbrechen mit ausländerfeindlicher (insbesondere gegen die Einwanderung gerichteter) Rhetorik. Bei dieser Gelegenheit werden die gemeinsamen Sicherheitsvorkehrungen der Europäischen Union in Zweifel gezogen – wehmütig erinnert man sich der durch den Nationalstaat verbürgten Sicherheit. Politische Führer der Mitgliedsstaaten werfen einander unverzeihlich sorglose oder nachlässige Haltungen gegenüber dem Verbrechen und der Zuwanderung aus dem Ausland vor. Sie übertreffen sich in ihrer Entschlossenheit zur Abwehr dieser doppelten Bedrohung.

Unter diesen Umständen werden die geplanten Fortschritte der europäischen Einigung, wie sie zum Beispiel im Vertrag von Maastricht zum Ausdruck kommen, mit gemischten, ambivalenten Gefühlen begrüßt. Einerseits laufen im Bild des überstaatlichen Europa all die krankhaften, bedrohlichen und erschreckenden Rückwirkungen der derzeitigen Globalisierung der Finanz-, Kapital- und Arbeitsmärkte zusammen: Macht, die den Händen der Regierungen entgleitet, Nationen, die nicht mehr wirklich bei sich sind, in ihrer eigenen Heimat nicht mehr sicher. Andererseits winkt die Aussicht der Einigung mit der lockenden Möglichkeit der „Festung Europa“, die vielleicht durch Bündelung vieler schwacher Kräfte erreichen könnte, was die staatlichen Regierungen getrennt nicht mehr gewährleisten können: Vielleicht wird der Staat Europa gemeinsam die Kraft aufbringen, um der Macht der globalisierten Märkte zu widerstehen, den Druck der Globalisierung an den gemeinsamen europäischen Grenzen abzufangen und somit die schlimmsten Gefahren für seine Mitliedsstaaten und Mitgliedsnationen abzuwenden...

Welche Erfolge die Prediger der nationalen Homogenität und die Verfechter einwanderungsfeindlicher Maßnahmen in Zukunft auch haben werden – man kann einigermaßen sicher sein, daß Europa auf lange Zeit eine polykulturelle Region bleiben wird. Die kulturelle Vielfalt wird wahrscheinilch eher zu- als abnehmen. Kulturelle Konvergenz, Vermischung von Kulturen, „Assimilation“ „schwächerer“ durch „stärkere“ (das heißt, machtgestützte) Kulturen ist eher unwahrscheinlich, während das Postulat neuer kultureller Kombinationen und die Erfindung neuer Traditionen weitergehen wird.

Es wird immer deutlicher, daß die heutige kulturelle Bühne eher als Matrix begriffen werden muß, die eine Reihe endloser und variabler Permutationen hervorbringen kann, denn als Standort der Begegnung eindeutig unterschiedlicher kultureller Totalitäten im Konflikt oder Austausch. Kulturelle Pluralität muß nicht Pluralität der Kulturen bedeuten, geschweige denn die Pluralität kulturell definierter Gemeinschaften.

Weil alle Grenzen unbeständig sind und zu ihrer Aufrechterhaltung einer intensiven Loyalität bedürfen, bietet eine solche kulturelle Situation einen fruchtbaren Boden für Konflikte und gegenseitige Aggressionen. Aus dem gleichen Grund jedoch bietet sie auch Gelegenheit für beispiellose Experimente und Kreativität.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen