Gegen Flüchtlinge in Estland und Lettland: Fremdenfeindliches Baltikum
Die Abneigung gegen Flüchtlinge hat in Estland und Lettland schon paranoide Züge. Die Argumentation ist von Angst beherrscht.
„Wenn die Immigranten nach Estland kommen, gibt es eine Katastrophe.“ Oder auch „man sollte eine europäische Unterschriftenkampagne starten, damit keiner dieser sogenannten Flüchtlinge mehr das Mittelmeer überqueren kann.“ Diese Sprüche stammen ausgerechnet von Estlands ehemaliger Aussenministerin und Ex-Europaparlamentarierin Kristiina Ojuland.
Die Zahl von 200 Flüchtlingen stammt vom estnischen Innenminister Hanno Pevkur. Sie ist natürlich nur ein Bruchteil der verbindlichen Quote, die von der EU-Kommission vorgeschlagen worden war, die aber Estland ebenso wie die anderen baltischen Staaten abgelehnt hat. Und Tallinn möchte „seine“ Flüchtlinge handverlesen.
Gerne Familien und „vorzugsweise christliche Migranten“, wie Sozialminister Margus Tsahkna betont: „Schliesslich gehören wir zum christlichen Kulturkreis.“ Flüchtlinge aus Afrika wären eine „zu enorme Aufgabe“ für das Land, meint auch Ministerpräsident Taavi Rõivas: Das sei ein Grund dafür gewesen, dass man die Quotenpläne Brüssels nicht habe akzeptieren können.
349 Asylsuchende in fünf Jahren
Die GegnerInnen jeglicher Flüchtlingsaufnahme beruhigen solche Einschränkungen nicht. Werde die Tür des Landes auch nur einen Spalt geöffnet, seien diese Migranten wie ein „trojanisches Pferd“ und eine „Masseneinwanderung“ drohe, hetzt die rechtsradikale Oppositionspartei EKRE. Der Nationalstaat und die Souveränität des Landes seien bedroht. Aufrufe „Für ein weisses Estland“ kursieren in sozialen Medien.
Dabei kamen zwischen 1997 und 2012 gerade einmal 349 Asylsuchende ins Land. Doch nun steigt ihre Zahl. Vor allem Menschen aus der Ukraine und dem Sudan kamen in den letzten Monaten. Bislang sind alle Asylsuchende in einer einzigen Unterkunft untergebracht; im kleinen Dorf Vao mit rund 300 EinwohnerInnen.
Die Unterkunft war wiederholt Ziel von Anti-Flüchtlings-Kundgebungen: Zuletzt waren rund 500 Biker den Aufruf zu einer „Protest-Rally gefolgt. Die Unterkunft ist auf 35 Plätze ausgelegt, aber laut „Human Rights Watch“ mit derzeit rund 80 Flüchtlingen völlig überbelegt: Eine adäqute Versorgung dieser Menschen sei so nicht gesichert.
Gibt ja schon die russischsprachige Minderheit
Sind sich in Estland wenigstens die drei Mitte-rechts Regierungsparteien über eine minimale Flüchtlingsquote einig, bedroht diese Frage im benachbarten Lettland gleich den Bestand der Koalition. Dort haben sich die Konservativen von Ministerpräsidentin Laimdota Straumuja und die „Grünen“ nach langem Zögern und Druck aus Brüssel auf die Aufnahme von bis zu 250 Flüchtlingen in den kommenden zwei Jahren geeinigt. Eine „einmalige Geste der Solidarität“, wie Innenminister Rihards Kozlovskis vorsichtshalber betont.
Für den rechtsextremen Koalitionspartner „Nationale Allianz“ sind das 250 zu viel. Lettland sei im letzten Jahrhundert gezwungen gewesen mehr Migranten aufzunehmen, als jedes andere EU-Land, beklagt deren Fraktionsvorsitzender Raivis Dzintars. Er meint die im Lande lebende russischsprachige Minderheit. Dieses Drittel der Bevölkerung soll offenbar auch ein Vierteljahrhundert nach Erringung der Unabhängigkeit mit Flüchtlingen auf eine Stufe gestellt werden.
Öffne man die Tür für Flüchtlinge, riskiere man, Seuchen wie Ebola und den Terrorismus des „Islamischen Staats“ ins Land zu holen, warnte der Parlamentsabgeordnete Martins Bondars von der nationalistischen Opposition „Partei der Regionen“ in einem TV-Interview.
Im aktuellen „Migrant Integration Policy Index“ wird Lettland als Land mit der einwanderungsfeindlichsten Politik und der unzureichendsten Integrationspolitik aller EU-Länder geführt. Dabei hätte Lettland eigentlich Grund, sich über jeden Neuankömmling zu freuen: Über 270.000 Menschen, rund 14 Prozent der Bevölkerung haben dem Land in den letzten 15 Jahren durch Auswanderung den Rücken gekehrt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“