■ Tschetschenische Rebellen führen die russische Armee vor: Gefährliches Gaunerstück
Wäre das Ganze nicht so makaber, könnte man die letzte Aktion der tschetschenischen Rebellen für ein echtes Gaunerstück halten. Da setzen mehrere hundert schwerbewaffnete Unabhängigkeitskämpfer zum Sturm auf Grosny an, schießen dabei ein paar russische Hubschrauber ab und besetzen die wichtigsten strategischen Punkte in der tschetschenischen Hauptstadt. Dies war ihr gewaltigster Schlag seit Monaten – und vielleicht auch der folgenreichste. Denn mittlerweile haben sogar offizielle russische Quellen, ansonsten Meister im Herunterspielen des Gemetzels im Kaukasus, eingeräumt, daß die Tschetschenen Grosny wieder unter ihrer Kontrolle hätten.
Damit haben die widerspenstigen Kaukasier die russische Armee erneut gnadenlos vorgeführt. Doch was so unerklärlich scheint, hat in Wahrheit handfeste Gründe. Die gängigen Kategorien bewaffneter Auseinandersetzungen taugen schon längst nicht mehr, um den Wahnwitz zu erklären, der sich seit über 20 Monaten in der Kaukasusrepublik abspielt. Die russischen Truppen, demoralisiert und in desolatem Zustand, haben schon längst begriffen, daß es im Kaukasus nicht darum geht, die Integrität der Russischen Föderation zu verteidigen. Sie wissen, daß sie verheizt werden – um der Profilierungssüchte und Machtspielchen im Kreml und nicht zuletzt der persönlichen Bereicherung einiger weniger willen.
Auf tschetschenischer Seite deutet diese Offensive gleichwohl einen Wandel an. Denn ob die Rebellen nun mit oder ohne Einwilligung ihres Führers Selimchan Jandarbijew zu diesem ultimativen Schlag ausgeholt haben – fest steht, daß diejenigen, die bislang an Verhandlungen festhielten, zunehmend an Einfluß verlieren. Schamil Basajew, der den jetzigen Angriff befehligt, hat schon bei der Geiselentführung im südrussischen Budjonowsk im vergangenen Jahr keinen Zweifel daran gelassen, wie er Moskau zu antworten gedenkt – mit Gewalt. Wenn dem russischen Präsidenten Boris Jelzin heute im Kreml feierlich das Zepter für die nächste Amtszeit übergeben wird, dann dürften es weniger Freudenschüsse sein, die dem Präsidenten im Ohr klingen als vielmehr tschetschenisches Trommelfeuer. Und das noch auf unbestimmte Zeit. Barbara Oertel
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