Gaza Talks im Berliner Ensemble: Über den Schmerz reden
Mit ihren „Gaza Talks“ will Alena Jabarine die Zäsur des 7. Oktober reflektieren. Noy Katsman sprach über seinen von der Hamas ermordeten Bruder.
Zum Schluss dieses Interviews sagte Noy Katsman noch ein paar Sätze, die ihm wichtig waren. Er wolle nicht, dass der Tod seines Bruders benutzt werde, um unschuldige Menschen zu töten – sein Bruder hätte das auch nicht gewollt. Leider mache seine Regierung genau das. Er schloss mit einem Appell: „Hört auf, unschuldige Menschen zu töten. Das wird uns keine Sicherheit bringen.“ Kaum war das Interview ausgestrahlt, gingen seine Worte im Netz viral.
Sieben Monate später sitzt Noy Katsman in einem kleinen Nebenraum des Berliner Ensembles und spricht mit der deutsch-palästinensischen Moderatorin Alena Jabarine über jene Tage und den Krieg in Gaza, der bis heute andauert. Die Hamburgerin ist die letzte Journalistin palästinensischer Herkunft, die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verblieben ist – alle anderen wurden gecancelt, nachdem sie zum Ziel öffentlicher Angriffe geworden waren. Im Brecht-Theater am Schiffbauerdamm moderiert sie nun eine kleine Reihe, die sich „Gaza Talks“ nennt.
Darin will sie einen Raum öffnen für Gespräche über jenen Tag, der in ihren Augen eine „Zäsur“ ist, und über seine Folgen. Denn der 7. Oktober habe vieles verändert – er habe „Angst geschürt, zu Kündigungen von Freundschaften und Arbeitsverhältnissen geführt“. Viele Menschen fragten sich, „ob sie überhaupt noch eine Zukunft in diesem Land haben“, heißt es in der Ankündigung.
Zur Premiere sitzt Noy Katsman auf der Bühne des kleinen Saals, rund 60 Menschen hören ihm aufmerksam zu; die Veranstaltung war lange zuvor ausverkauft. Der 27-Jährige studiert Soziologie, Anthropologie und Gender-Studies in Be’er Scheva, an der Ben Gurion-Universität im Negev, doch seit September lebt er als Austauschstudent in Leipzig. Er erzählt noch einmal, wie er dort vom Tod seines Bruders erfuhr.
Am 7. Oktober sei er morgens aufgewacht, habe die Nachrichten gesehen und seinen Bruder angerufen. Der habe ihm gesagt, er wisse auch nicht, was los sei, ihn aber beruhigt: Die Alarmsirenen seien ja an. Mittags habe er den Bruder nicht mehr erreicht, aber sich nichts dabei gedacht – vermutlich sei das Funknetz überlastet gewesen. Weil Shabbat war, konnte er seine religiösen Eltern erst abends erreichen, aber niemand wusste, was los war.
„Endlich sagen, was ich denke“
Erst am nächsten Morgen riefen die Eltern wieder an, um ihm zu sagen, dass sein Bruder gefunden worden sei: Er sei tot. „Dann bin ich nach Israel geflogen“, sagt Noy Katsman. Doch es habe einige Tage gedauert, bis es eine Beerdigung gab: Es herrschte Chaos im Land. Als CNN auf ihn zukam, dachte er, „endlich kann ich sagen, was ich denke“. Denn in Israel habe er diese Möglichkeit so nicht.
„Wie fühlt sich dein Schmerz heute an?“, war Jabarines erste Frage an ihn gewesen. Für sie selbst und viele andere sei das Leben nicht mehr wie vor dem 7. Oktober, hat die 38-jährige Journalistin zuvor gesagt. Sie schlafe zu grausamen Bildern aus Gaza ein, und sie begleiteten sie durch den Tag. „Der Tod ist für viele von uns ein Grundrauschen geworden“, sagt sie. Und, hatte sie zuvor klar gestellt: Man repräsentiere hier niemanden und spreche nur für sich selbst.
So wird es ein sehr persönliches Gespräch, das zugleich sehr viel über die gegenwärtige Lage in Israel und Deutschland aussagt. Denn Katsman erzählt, wie es ist, als linker Aktivist in Israel aufzuwachsen, wo man schnell als Verräter angesehen wird – selbst wenn man eher moderate Standpunkte vertritt. Und er beklagt die große Kluft zwischen der Nachrichtenrealität und dem, was in Gaza passiere. „Jede Schlagzeile macht mich traurig“, sagt er, und er frage sich: „Verliert meine Gesellschaft den Kontakt zur Realität?“
Katsman erzählt von seiner Familiengeschichte und seiner Entwicklung zum Aktivisten. Seine Großmutter stammte aus Dortmund, seine Eltern hatten in den USA gelebt und waren 1990 nach Israel gezogen, sie seien religiös und rechtsnationalistisch. So wuchsen er und seine sechs Geschwister in Petach Tikwa auf, einem Nachbarort von Tel Aviv und „die langweiligste Stadt in Israel“, so Noy Katsman. Einige Cousins väterlicherseits leben in Siedlungen im Westjordanland, diese habe man ab und zu besucht.
Seinen Militärdienst leistete zuerst bei der Marine, die vor der Küste von Gaza dafür sorgt, dass kein Fischer mit seinem Boot die Seegrenze überschreitet. Die Fischer seien nur Punkte auf einem Bildschirm gewesen. Einmal gab es einen Zwischenfall, bei dem sein Patrouillenschiff ein Fischerboot überfahren habe, der Vorfall sei unter den Teppich gekehrt worden. Noy Katsman berichtete der Menschenrechtsorganisation „Breaking the Silence“ davon, die solche Fälle dokumentiert.
Nach dem Wehrdienst ging er zum Studium nach Be’er Scheva. Bei einem Workshop in Bethlehem habe er erstmals Palästinenser kennengelernt und Freundschaften geschlossen. Bis dahin seien sie wie ein fernes Phantom gewesen, das Leben in Israel sei sehr segregiert. Katsmann begann, sich in der jüdisch-arabischen Bewegung „Standing together“ zu engagieren. Er sei damit auf dem Campus ein Außenseiter gewesen und manchmal von rechten Studenten schikaniert worden. Er provoziere, warf man ihm vor.
Eine isolierte Linke
Deshalb habe er sich gefreut, ins Ausland gehen zu können. In Deutschland sei die linke Szene viel größer, hat er festgestellt, aber manches sei anders. Viele hätten ein verklärtes Bild von Israel, das sei Teil ihrer Identität. „Aber immerhin sind sie bereit, zuzuhören“, sagt Katsmann. Das sei in Israel anders: die Linke sei dort völlig isoliert. Viele in Deutschland verstünden nicht, wie eng der antipalästinensische Rassismus in Israel mit antimuslimischen Vorstellungen verbunden sei.
Erstaunlich eigentlich, dass Noy Katsman noch nie bei Markus Lanz oder einer anderen deutschen Talkshow zu Gast war: Er hat viel zu erzählen und bringt eine Perspektive ein, die hierzulande fehlt. In Israel demonstrieren manche Angehörige von Geiseln seit Monaten für einen Waffenstillstand und Verhandlungen, doch auch ihre Stimmen werden in Deutschland wenig gehört. Warum das so ist, darüber will Alena Jabarine in der nächsten Folge der „Gaza-Talks“ sprechen. Ende Juni soll es um das Thema „Medien“ gehen. Auch diese Veranstaltung ist schon ausverkauft.
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