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Gamines - Die Straßenkinder von Bogota

■ In der kolumbianischen Hauptstadt leben Hunderte von Kindern - oft erst fünf Jahre alt - tagsüber und nachts auf der Straße. Sie haben sich zu Banden zusammengeschlossen - eine Mischung aus Gewalt, Faulheit und Lebenslust

Aus Bogota Thomas Schmid

„Diese Mischung aus Abscheulichkeit und Entgegenkommen, Bösartigkeit und Freundlichkeit, Spottlust und Verkommenheit, das ist der Chino von Bogota, der Engel der Bosheit.“ Diese Beschreibung eines Straßenkindes ist 127 Jahre alt, doch hat sie an Aktualität wenig eingebüßt. Bloß daß man die Straßenkinder von Bogota seit einem halben Jahrhundert nicht mehr Chinos, sondern Gamines nennt. Und daß diese damals noch nicht an offenen Autotanks oder den Klebstoff–Tüten schnüffelten, um zu „fliegen“, wie die Kleinen ihren Rausch beschreiben. „Wie so viele Mißstände, an denen Kolumbien leidet, ist auch dieser aus den USA zu uns gekommen“, meint Majo trocken. Zwar gibt es inzwischen in vielen Großstädten Lateinamerikas Kinder, die auf der Straße leben, im Freien nächtigen und sich zu Banden zusammenschließen, doch in Bogota hat das Phänomen Tradition. Und längst gibt es Gaminologen, die sich streiten, ob der Gamin Produkt „singulärer Familienkrisen“ ist oder ob die kolumbianische Gesellschaft schlechthin „gaminogen“ ist. Doch während die Gaminologen ihr Forschungsmaterial in der Regel nur aus Zeitungsausschnitten, Büchern und amtlichen Statistiken kennen, weiß Majo, wovon er redet. Er kennt die Gamines wie kein zweiter in Bogota. Seit 25 Jahren kümmert er sich um sie, und seit Jahren fährt er jeden Montag und Donnerstag spät nachts los, um die „Camadas“ aufzusuchen. Bürgerschreck in Kleinformat Eine Camada (von „cama“, zu deutsch: Bett) ist eine Gruppe von Gamines, die zusammen die Nacht verbringen. Sie braucht nicht identisch mit der „Gallada“ zu sein, der Bande, die tagsüber auf der Suche nach Eßbarem, nach locker sitzenden Geldbeuteln, nach Freiheit und Abenteuer durch die Stadt streicht. Ja, Majo kennt sich da genau aus, nicht erst seit er die Kinder zweimal wöchentlich mitternachts aufsucht. Er war selbst zehn Jahre lang Gamin. „Ich war wohl etwa acht Jahre alt, als ich von zuhause weg auf die Straße ging. Es muß 1947 oder Anfang 1948 gewesen sein. Den Bogotazo jedenfalls habe ich auf der Straße erlebt“, erinnert er sich. Der Bogotazo ist der Volksaufstand von Bogota im April 1948, der auf die Ermordung Gaitans, eines populären und populistischen Politikers, folgte und in einen zehnjährigen Bürgerkrieg mit 300.000 Toten mündete. „Ich bin einer von denen, die nie von der Straße wegkommen“, scherzt Majo. Erst war er Gamin, dann ging er auf allerlei krumme Touren und nun ist er Street–worker. Seine Geschichte ist ihm ins Gesicht geschrieben. Er sieht aus wie der typische Pariser Clochard, wie aus der Leinwand von Truffauts „Jules et Jim“ geschnitten: bärbeißig und verschmitzt zugleich. Und noch etwas hat er sich aus seiner Gamin–Zeit bewahrt: er lacht aus vollen Augen. Auch der Gamin, dessen Foto im Großformat an prominenter Stelle über dem Eßtisch in Majos bescheidener Wohnung hängt, hat dieses La chen. Es ist das typische Bild vom ärmlichen, verdreckten Gamin, der in zu große Lumpen verpackt ist. Doch anstatt der hilfesuchenden Kindsaugen, wie man sie von den Broschüren karitativer Hilfswerke kennt, ein frecher Blick. Der Gamin ist nicht nur der arme Straßenjunge, er ist auch Bürgerschreck. Kein Wunder, daß der Gamin von antiautoritären Linken mitunter zum kindlichen Rebell schlechthin verklärt wurde. Immerhin hatte auch ein Kongreß von Gaminologen Ende der siebziger Jahre festgestellt: „Die Haltung des Gamin ist Ergebnis eines aktiven Prozesses. Sie ist ein Versuch, sich von der Härte, der Brutalität und der Ungerechtigkeit der Erwachsenen zu befreien. In voller Freiheit. Er zieht sein eigenes Elend vor. Obwohl ursprünglich und instinktiv, ist es beinah eine revolutionäre Haltung.“ Zuckerwasser um Mitternacht Majo hat inzwischen eine 20–Liter–Thermosflasche - „von deutschen Freunden geschenkt“ - mit heißem Panela–Wasser in den Jeep gepackt. Panela ist eine kolumbianische Spezialität. Es ist Rohrzucker in Form eines stein harten Barren, der wie Hartkäse gerieben wird. Im heißen Wasser aufgelöst, erhält man ein schmackhaftes, kalorien– und mineralienreiches Zuckerwaser. „Sonst kriegen die Jungs meistens Suppe, aber wir sind gerade wieder mal knapp bei Kasse“ - und los geht die Fahrt durchs nächtliche Bogota. Es ist kurz nach zehn Uhr. In vielen Vierteln der Hauptstadt trifft man um diese Zeit nur noch die Unterwelt, Alkoholiker und eben Gamines an. Majo weist dem Chauffeur den Weg. Er kennt die Stadt wie seine Hosentasche. „Rechts in die Siebzehnte rein“ - Bogota ist etwa schachbrettförmig angelegt, das Straßennetz durchnumeriert -, doch auf dem Plätzchen, wo er die erste Camada anzutreffen hoffte, weit und breit kein Gamin. Kein Wunder, an der Ecke steht ein Polizeibus. „Der Gamin hat viele Feinde: die Kriminellen, die Polizei, die Homosexuellen, die Sadisten.“ Mit Sadisten meint Majo diejenigen, die ohne ersichtlichen Grund - oft in alkoholisiertem Zustand - die Straßenkinder treten, prügeln, mißhandeln. Wenige Häuserblöcke weiter treffen wir auf die ersten drei Gamines, zwischen acht und elf Jahren. Sie steigen zu, die rechte Hand zum höflichen Gruß hingestreckt, die linke unter dem Pulli versteckt, um den Plastikbeutel mit dem Klebstoff zu halten, und während der Fahrt stecken sie alle Nase lang den Kopf unter den Pullikragen, um zu schnüffeln. Der Kleinste schaut nur noch dumpf– abwesend aus der Wäsche. Doch als sich unsere Blicke treffen, strahlt er plötzlich. „Ich habe Schnaps getrunken, einen Plastikbecher voll“, verkündet er stolz. Bogota liegt in 2.600 Meter Höhe. Ohne sich zu betäuben, hält man die kalten Nächte unmöglich aus, hatte mir Majo gesagt. „Wir soffen damals Manzanilla, einen billigen Fusel–Wein.“ Auch das heiße Panela–Wasser wärmt auf. Für jeden ein Plastikschüsselchen und ein Brötchen dazu - und weiter geht die Fahrt. Vorbei an irgendwelchen Haufen, die am Straßenrand liegen. Im Dunkel unmöglich zu erkennen, ob es sich um Abfall oder schlafende Kinder handelt, wenn man nicht das Auge eines Majo hat. Einen Häuserblock vom Präsidentenpalast entfernt, im Zentrum der Hauptstadt, treffen wir kurz nach Mitternacht auf eine Gruppe von 17 Gamines, zwischen fünf und 15 Jahren, darunter einige Mädchen, eines mit ihrem Baby auf dem Arm. Alle quetschen sich in den Jeep. Ein unerträglicher Gestank von Klebstoff, Alkohol, Dreck, Urin macht sich breit. Doch die Kinder fühlen sich sauwohl, lärmen, quietschen vergnügt. „Ma jito, hast du schon...“, „Majito, sag mal...“, „Majito“, „Majito“. Alle kennen sie ihn längst, den Majito, wie sie ihn zärtlich–ehrfürchtig nennen. Er ist ihr Vater, ihr Schutzengel, ihr Freund. Resozialisierung Als wir um zwei Uhr früh vor seiner Wohnung parken, kann Majo auf eine erfolgreiche Nacht zurückblicken. Der 20–Liter– Thermokanister ist leer. Von den Brötchen ist nichts übrig geblieben. Über 50 Kinder wurden gefüttert. Doch Majo geht es nicht primär darum, die kleinen Bäuche zu füllen. Das gibt er unumwunden zu. Das Panela–Wasser ist Mittel zu einem anderen Zweck, gewissermaßen ein Köder. Majos nächtliche Fahrten sind die Ouvertüre eines mehrstufigen Resozialisierungsprogramms des italienischen Salesianer–Paters Javier de Nicolo. Mit der „Operation Freundschaft“, wie die erste Stufe dieses Programms heißt, soll Kontakt zu den Gamines aufgenommen werden. Und in der Tat kennen fast alle der etwa 400 Gamines von Bogota Majo. Zwischen 70 und 150 von ihnen kommen tagsüber in seinen „Patio“, einen Spielhof, wo sie auch duschen können, den sie aber um vier Uhr nachmittags wieder verlassen müssen. Etwa 60 Gamines befinden sich zur Zeit auf der nächsten Stufe des Resozialisisierungsprogramms, in zwei Schlafstätten, wo sie acht Wochen bleiben dürfen. Danach müssen sie entscheiden, ob sie von ihrem Kiez weg in ein Zentrum ziehen wollen, in dem sie alphabetisiert werden und anschließend die Möglichkeit einer technischen oder landwirtschaftlichen Ausbildung haben, oder ob sie zurück auf die Straße wollen, in eine „Welt ohne Erben, wo sich Gewalt, Faulheit und Lebenlust vertragen“, wie der französische Ethnologe Jacques Meunier meint. „30 Prozent kriegen wir von der Straße weg“, hatte mir Majo gesagt. Das ist - wie jeder Sozialarbeiter, der mit Randgruppen zu tun hat, bestätigen wird - eine hohe Erfolgsquote. Der Großteil der übrigen 70 Prozent dürfte früher oder später einer Jugendbande beitreten, von denen es mittlerweile etwa 200 gibt. Sie haben sich Bogota in scharf abgegrenzte Beutereviere aufgeteilt. Sie nennen sich „Los Vampiros“, „Las Gordas“ (“die Dicken“, eine rein weibliche Gang) oder „Las Cobras“, mit 400 „Mitgliedern“ die stärkste und gefährlichste Bande. Doch anders als bei den Gamines verdrängt hier die Gewalt die Lebenslust. Das rebellische Element verkommt zur puren Delinquenz, die keine moralischen Schranken zu kennen scheint. Das Lachen des Gamin ist diesen Outlaws in der Regel abhanden gekommen.

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