: GRAMMATIK DES SEHENS
■ John Armleder in der Galerie Anselm Dreher
John Armleder macht keine konkrete Kunst, denn er malt in diesem Sinne keine reduktionistischen Bilder; auch produziert er keine Minimal Art, denn er hat das Problem der Gegenstand-Folklore nicht; er zeigt auch kein Design, denn die vorgeführten Gegenstände präsentieren nicht ihren ästhetischen Wert im Dienste eines mehr oder minder nötigen Gebrauchswertes. John Armleder steht schon eher in der Tradition von Fluxus-Kunst, denn er benutzt ready mades, durchaus auch Design-Gegenstände, aber vornehmlich normale Teile der Industrie-Produktion, wie sie überall erhältlich sind in neuem Kontext, in ungewöhnlicher Kombination oder integralem surrounding, so daß Mehrfachfunktionen, Ambivalenzen oder Umwertungen, Enttäuschungen von Seherwartungen oder unwillkürliche Inventionen angeregt, provoziert, lanciert oder begünstigt sind. Die Wahrnehmung des scheinbar Normalen gerät in Bewegung, konstruiert nebenbei neue Ordnungen oder akzeptiert „naiv“ das Ungewohnte.
In den geschachtelten Räumen der Galerie Anselm Dreher zeigt der hübsche Schweizer Künstler, Typ esoterischer Gentleman, der es eigentlich gar nicht nötig hätte, Kunst zu machen, in jedem der Raumsegmente ein oder zwei Werke seiner neueren Produktionen, wie sie vorher bereits 1987 im Museum Winterthur, im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, im ARC, Musee d'Art moderne de la ville de Paris sowie in der Nationalgalerie Berlin gesehen werden konnten.
Wenn Armleder seine für unsere wild-kritisch-heftig geübten Sinne ungewohnten Bilder oder Objekte nun auch auf Galerieebene vorstellt, so muß man sich als Betrachter erst mal halbwegs naiv auf das einlassen, was man zu verstehen glaubt oder was man denken möchte. Denn ganz willkürlich sind die Werke bestimmt nicht.
Wenn er etwa ein 100 x 100 cm großes „Bild“ an eine Wandhängt, pantherartiges Korkenmuster auf Plastikfolie, straff ohne Falten gespannt, so daß das Werk von vorne als Marmorplatte erscheint und erst beim genaueren Hinsehen dem Neugierigen oder Kunstinteressierten als „billig“ bezogener Rahmen erkennbar wird, kann man den Materialbluff gleichzeitig als Unter- wie als Überbewertung des erwarteten, optisch plausiblen Materials deuten. Marmor wäre teurer gewesen als Plastik, aber durch die erreichte Täuschung, das trompe d'oile des billigeren Materials, wird der Marmorwert durch den Kunstwert des Objekts noch übertroffen. Also Wertambivalenz als ästhetischer Kunstgriff. Eine mögliche Interpretation.
Im gleichen Raum steht ein Alu-Stahl-Stuhl mit dem Rücken zur Wand, an der eine hohe vertikale Leinwand mit zwei senkrechten, schwarzen, parallelen Streifen gespannt ist. Zwei spontane Striche auf dem oberen Teil lockern die Symmetrie. Der Stuhl wurde so von der Industrie gekauft und erinnert etwas an einen elektrischen Stuhl oder an Bauhaus -Design, ohne ganz deren funktionale Eleganz zu erreichen. Das Tuch dahinter hat etwas Japanisches oder Meditatives. Überzogene Interpretation erscheint dem Objekt nicht angemessen, jedenfalls kann es aber nicht nur als Malerei oder Möbel gedeutet werden. Im nächsten Raum sieht man als eine Art Triptychon einen auf eine perforierte Schallschutzplatte von etwa 220 x 290 cm montierten, innen weiß gestrichenen senkrechten schmalen Kasten aus Sperrholzmaterial. Ihm schräg gegenüber liegt ein Ball, in etwa zwischen Handball- und Fußballgröße, rosa, mit Seifenschlieren oder glänzendem Marmormuster, darauf gedruckt steht: CAPRICE, by Columbia, 7 F97 729, John Armleder, 24/24 (was immer das heißen soll).
Im Raum dahinter 2 mal 3 Neonröhren, senkrecht parallel, 3 lila, 3 weiß erleuchtet. Lichtaltar. Im seitlich davon befindlichen Raum dann noch ein Horizontal-vertikal-Objekt von fast sakraler Aura. Etwa 1m hoch und 4,50m breit, rotes Tuch, in der Mitte senkrecht zwei schmale nach außen verspiegelte Lichtröhren, deren indirekte Beleuchtung die sanfte Präzision des Tuchobjekts betonen. Durch optische Täuschung sieht der obere Horizont des farbigen Tuches bezogen auf die weiße Raumwand dahinter gebogen aus, wie ein schematisierter Sonnenuntergang oder -aufgang oder die Geometrie imaginärer Flugschwingen.
Aber das sind schon wieder romantische Erklärungen, welche nach gegenständlichen oder narrativen Assoziationen suchen. „Furniture Sculpture“, wie Armleder manche seiner präzise reduzierten, also weder geometrisch oder spirituell noch im konzeptuellen Zusammenhang beliebigen „Möbel-Skulpturen“ nennt, rekurriert auf Seherfahrungen, besonders auch auf französische und amerikanische Resonanzen, welche in der „Simulation“ oder in den Möglichkeitspotentialen mehr Sinn loten als in dogmatisch eiligen Erklärungen. Die 500jährige Friedenstradition der Schweiz fördert eben eine ganz andere Denkweise und kategorale Ästhetik als dies bei uns sinnvoll oder praktisch erschiene. Jedenfalls wirkt die relativ geklärte Ästhetik von Armleder irgendwie erholsam.
Andreas Kaps
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