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GEDULDIGE NACHBARN Von Philippe André

Man stelle sich vor, deutsche Urlauber, Touristen oder Geschäftsleute würden, kaum in Frankreich angekommen, sofort nach der Grenze in ihren Wagen attackiert, verprügelt, beraubt und schwer verletzt. Nicht eigentlich des Geldes wegen, sondern weil sie Deutsche sind. Da wär' was los im Lande! Der Blätterwald wäre voll von Schreckensreportagen über die brutalen und nachtragenden Franzosen, die es nicht gelernt hätten, zu verzeihen. Die elektronischen Medien würden nicht müde, diese fürchterliche Ungerechtigkeit in alle Welt hinauszuschreien. Die Bildung eines Krisenstabes wäre unausweichlich. „Wo wir doch so viel gebüßt haben“, würden die Politiker schmollen und mit devotem Augenaufschlag hinzufügen: „und dann die ganze Trauerarbeit!“

Dem ist natürlich Gott sei Dank nicht so. Deutsche können überall hin, es wird ihnen in der Regel nicht Schlimmeres widerfahren als anderen Nationalitäten auch. Aber den Polen geht es so. Und zwar bei uns. Seit April 1991, als Polen wieder visafrei einreisen durften, werden sie regelrecht gejagt. Systematisch werden sie oft an der Grenze schon abgefangen. Ihre Autos werden demoliert. Immer wieder werden sie geschlagen, getreten, verletzt, beraubt, auf offener Straße beschimpft. Als sie hier in Berlin ihren „Polenmarkt“ aufgeschlagen hatten — unsere Chance, ein wenig echte Nachbarschaftshilfe zu leisten — da giftete die ganze Stadt bis hinauf in die höchsten offiziellen Stellen. Die Blätter waren voll von dem „unhaltbaren Zustand“. Trauerarbeit!

Die ständigen Angriffe gegen unsere östlichen Anrainer sind den Blättern immer wieder mal eine Kurzmeldung oder einen Zweispalter wert, die Politiker verlieren darüber schon kaum mehr ein Wort. Vor wenigen Tagen überfielen in Berlin mehrere Männer einen Polen. Sie zerrten ihn in einen Park. Dort betäubten sie seine Zunge mit einer Spritze und schnitten ihm ein Stück heraus. Ein Qualitätssprung der Verrohung, zweifellos. Der aufkommende Ekel ist von der gleichen Art wie jener, der uns befiel, als wir von den Menschenversuchen der Nazis erfuhren.

Natürlich zeigen nun vom Bürgermeister bis zum Polizeipräsidenten alle aufrichtige „Empörung und Abscheu“ ob dieses Verbrechens. Aber dabei, so ist zu fürchten, wird es auch bleiben. Dem organisierten Polenhaß wurde bislang keine gutausgestattete und schlagkräftige Verbrechensbekämpfung entgegengestellt. Die Schlangengrube wächst ungehindert weiter. Die Staatsmacht warnt derweil davor, die öffentliche Diskussion um den Rechtsradikalismus „zu laut“ zu führen, da „viele (Täter) gar nicht politisch motiviert“ seien. Zu bewundern ist eigentlich nur die Geduld der Polen.

Nochmal zur Trauerarbeit. Geht das? Lassen sich Gefühle in den Rahmen Arbeit pressen? Kann man wirklich alles mit Arbeit erledigen? Doch es hat einen Vorteil. „Wenn alles getan ist“, kann man sich wieder den angenehmeren Dingen zuwenden. Komme was wolle!

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