: G A S T K O M M E N T A R Gnade und Recht
■ Zur Amnestie in der DDR
Honecker öffnet die Gefängnisse, und alle jubeln über das deutliche Zeichen der Verbesserung des politischen Klimas. Da kann ich nur zustimmen, kenne ich doch selbst das sehnsüchtige Warten auf die „Amme“. Begriffe wie Liberalisierung oder DDR–Glasnost sind doch wohl fehl am Platze. Honeckers großzügige Geste ist nichts anderes als Tünche. Was bedeutet Abschaffung der Todesstrafe, wenn sie an der Mauer weiterhin vollzogen wird? Was heißt Einführung einer Berufungsinstanz auch für das Oberste Gericht, wenn Urteile nicht von einer unabhängigen Justiz gefällt, sondern vom Staatssicherheitsdienst festgelegt werden? Mit „freier Entwicklung des Menschen“ und „anerkannten Normen des Völkerrechts“, wie es so schön in der Amnestiebegründung heißt, hat es nichts zu tun, wenn die „Organe“ weiter nach Belieben verhaften können. Nichts ist berechenbar, und vielen Menschen ist es unerträglich, nur von der Großzügigkeit des Staatssicherheitsdiensts abhängig zu sein. Ob man eingesperrt wird oder nicht, entscheidet nicht der Tatbestand, sondern die politische Situation. Vorwände lassen sich immer finden. Es kommt nicht darauf an, wer Recht, sondern wer die Macht hat, sagte mein Vernehmer in der U–Haft zu mir und fügte zynisch hinzu: Und die haben wir im Interesse der Arbeiterklasse. Jede kritische Meinungsäußerung kann als „öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“, jeglicher Westkontakt als „ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ gewertet und strafrechtlich verfolgt werden. Die Liste ließe sich fortsetzen. Die Gummiparagraphen der bestehenden Strafgesetze der DDR machen es juristisch möglich, jederzeit jede/n Bürger/in zu verurteilen. Von Rechtssicherheit ist keine Spur, zumal auch die Möglichkeiten, sich mit Anwalt und Öffentlichkeit zur Wehr zu setzen, sehr gering sind. Nicht Gnade brauchen die Menschen in der DDR, sondern Recht. Roland Jahn, ehem. politischer Häftling, 83 zwangsausgebürgert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen