Über die Folgen der Dauererregung: Ich bin so meinungsmüde

Entweder bist du meiner Meinung oder ich blocke dich, entfreunde dich, schneide dir die Kehle durch: Was uns unter Stress setzt, ist nicht die hektische Welt. Sondern ein links wie rechts übergriffiges Bescheidwissertum.

»Ich meine, du deine«: Exponat aus Max Kerstings Serie zu Meinungsmüdigkeit Foto: Max Kersting

Von ARNO FRANK

Zwischen 1875 und 1955 bimmelte in meiner Heimatstadt eine Straßenbahn. 65 Jahre nach ihrem Abriss gab es den Versuch, sie als moderne »Citybahn« wieder auferstehen zu lassen. Zu diesem Zweck gab es neulich einen Bürgerentscheid. Einfache Frage: Straßenbahn, ja oder nein? Die FDP war dagegen, die Grünen waren dafür. Ladenbesitzer waren dagegen, Villenbewohner auch. Fahrradfahrer waren dafür, Verkehrsplaner auch.

Wenn die FDP für etwas ist, egal was, bin ich normalerweise dagegen. Hier aber war es mir gleichgültig. Der Bekehrungseifer beider Parteien widerte mich an. Kein Blick aus dem Fenster, ohne ein Plakat dafür oder dagegen zu sehen. Kein Gespräch mit Freunden, bei dem die Sprache nicht irgendwann auf die Straßenbahn gekommen wäre.

Beim Gemüsehändler kam es zu Handgreiflichkeiten, weil ein Befürworter die dort ausliegenden Broschüren der Gegner verschwinden lassen wollte. »Bei manchen Leuten«, sagte mir die Verkäuferin, eine Gegnerin, »müssen wir das Thema vermeiden.« Kurz vor dem Urnengang titelte das Lokalblatt wahrheitsgemäß: »Bevölkerung gespalten wie nie!«

Die Zumutung, sich fortwährend zu allem eine Meinung bilden zu müssen

Ich bin meinungsmüde. Jetzt ist es raus. Es gibt keinen Grund, mich dafür zu entschuldigen. Ich bin rechtschaffen meinungsmüde. Wenn die Leute sich schon wegen einer Straßenbahn (ja oder nein?) die Freundschaft kündigen, dann stimmt etwas nicht. Fundamental.

Müde bin ich der Meinungen anderer Leute, die mir unablässig unter die Nase gehalten werden, auf dass ich sie annehme oder verwerfe. Deshalb möchte ich hier auch keine Meinung aus eigener Manufaktur in Umlauf bringen. Es gibt schon genug Meinungen. Wenn ich behaupte, mit meiner Meinungsmüdigkeit derzeit nicht ganz allein zu sein, ist das nur eine begründete Mutmaßung. Keine Meinung.

Müde bin ich auch der Zumutung, mir fortwährend eigene Meinungen bilden zu müssen. Zur Klimakrise, zum Kapitalismus, zum Betriebssystem meines Smartphones, zu den Wahlen in den USA, zum Virus, zum Terrorismus, zum Antisemitismus, zu Friedrich Merz, zu den Grünen, zum Asylrecht, zu Bushido, zu Rassismus, zu Satire, zur Bundesliga, zu Transpersonen, zum Service im Restaurant, zum Abtreibungsrecht in Polen, zu Laizismus in Frankreich, zum Islamismus in der Türkei, zu Hunden oder Katzen, zur Straßenbahn.

Der endlose Strom sich fortwährend aktualisierender Phänomene

Und, und, und.

Die Liste könnte man beliebig fortsetzen. Sie ist so lang wie der endlose Strom sich fortwährend aktualisierender Phänomene, Ereignisse oder Sachverhalte, zu denen ich mich angeblich »verhalten« muss. Aber noch nie floss er so breit und mächtig wie heute, da er die weiten Flächen des Politischen bedeckt und über ein feinverästeltes System an Kanälen bis ins Privateste sickert.

2020 war in dieser Hinsicht eine Hochwassermarke. Und besser wird es nicht von selbst.

Schon immer entsprang dieser Strom der Welt. Wer sich für die Welt interessiert, will von ihr nicht unbehelligt bleiben. Darum geht es nicht. Auch nicht um das Gefühl, gewissermaßen im Sekundentakt mit – selten erfreulichen, bisweilen apokalyptischen – Neuigkeiten gestopft zu werden wie eine Gans. In unserer Ära glasfaserverstärkter Vernetzung schnurren Zeit und Raum zusammen. Das Geschäft mit der Erregung brummt, wenn’s knallt.

»Erhöhte Reizbarkeit« als Überschrift über unserer Gegenwart

Wer davon überfordert ist, mag sich mit einer Meerschaumpfeife und einem »guten Buch« in den Ohrensessel zurückziehen. Früher oder später wird seine Meinung zu Pfeife, Buch und Sessel doch noch ans Licht kommen. Es sei denn, er ist rechtzeitig entschlummert. Dann wird er nach dem Aufwachen seinen Schlaf auf einer Skala von eins bis zehn bewerten können.

Wer sich dauerhaft den Schlaf versagt, auch im übertragenen Sinne, der wird an sich exakt jene Symptome beobachten, unter denen inzwischen ganze Gesellschaften leiden. Es kommt zu Störungen von Wahrnehmung und Bewusstsein, Apathie und Depression. Hinzu kommt mit einer »erhöhten Reizbarkeit« ein Phänomen, das fast schon als Überschrift über unserer Gegenwart stehen könnte.

Ich bin beispielsweise der Ansicht, die katholische Kirche sollte weniger Einfluss auf das Abtreibungsrecht in Polen haben. Ich werde keine polnische Katholikin davon überzeugen können, und vielleicht ist sie trotzdem ganz nett. Umgekehrt kann ich die landläufige Meinung nicht teilen, ein Profiteur von »strukturellem Rassismus« zu sein. Auch ist, meine ich, das Album Animals von Pink Floyd wichtiger als das komplette Genre des Punk. Eier mag ich lieber hartgekocht als weich. Vielleicht bin ich trotzdem ganz nett?

Jede Frage ist eine Gretchenfrage

Meinungen dulden keine Meinungen mehr neben sich. Zugleich werden unsere Meinungen bei jeder Gelegenheit abgemolken. Essen, Urlaub, Sex, Literatur. Jede Frage ist eine Gretchenfrage. Es ist inzwischen fast unmöglich, zu einem beliebigen Sachverhalt keine Meinung aus dem Ärmel zu schütteln – die dann wiederum einer kritischen Bewertung unterzogen, beurteilt oder verurteilt wird.

Wer einen Grund für gesellschaftliche Spaltungen oder Zersplitterungen sucht, der könnte hier fündig werden. In Gullivers Reisen entzündet sich der Krieg zwischen Liliput und Blefuscu an der Frage, ob das Ei am spitzen oder stumpfen Ende aufzuschlagen sei. Allzu weit sind wir von dieser Satire nicht entfernt.

Heute ist es nicht die Zudringlichkeit der Welt an sich, die uns unter Stress setzt. Es ist der allseitige Zwang, rund um die Uhr, sich eine Meinung zu ihr zu bilden. Und es ist womöglich diese Zudringlichkeit, die ganze Gesellschaften in Zustände galoppierender oder schleichender Defatigationen treibt.

Noch die abseitigste Meinung erhebt Anspruch auf Gehör und Respekt

Wir sind nicht »ausgebrannt«, nur müde.

2020 war das Jahr, in dem sich sehr viele müde Individuen sehr interessante Meinungen bildeten und die auch aggressiv vertraten, weil man seine Meinungen ja angeblich vertreten muss, beispielsweise zur Pandemie. Die Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger beschrieben 1999 den nach ihnen benannten Effekt, dass gerade Idioten sich für Genies halten: »Wenn man inkompetent ist, kann man nicht wissen, dass man inkompetent ist.«

Keine zwei Jahrzehnte wartet das ganze Wissen und jeder Quatsch einer unterdessen nicht eben überschaubarer gewordenen Welt nur darauf, durch einen Klick aufgerufen zu werden. Ein Umstand, der den Dunning-Kruger-Effekt ins Kritische verstärkt. Für jeden Bullshit gibt es irgendwo »Belege«, und noch die abseitigste Meinung erhebt Anspruch auf Gehör und Respekt.

Das journalistische Äquivalent zu einer Insel des Glücks ist in dieser Hinsicht das allmontäglich in der taz erscheinende Gespräch mit Friedrich Küppersbusch. Es beginnt traditionell mit einem Fragenpaar aus »Was war schlecht in der vergangenen Woche?« und »Was wird besser in dieser?«, am Ende steht stets eine Rausschmeißerfrage zum Lieblingsfußballverein des Journalisten und Publizisten: »Und was machen die Borussen?«

Ich meine, du deine

Zwischen Einstieg und Ausstieg ist es, als richte man eine Tennisballmaschine auf Küppersbusch. Im Sekundentakt werden aktuelle Fragen zum politischen oder gesellschaftlichen Zeitgeschehen abgefeuert, die der Mann originell retourniert. Tatsächlich bekommt er die Fragen im Paket. Und selten braucht er mehr als eine Viertelstunde für ihre Beantwortung.

Der entscheidende Satz aber ist immer rund eingeklinkt. Online sieht man ihn nicht, in der gedruckten Ausgabe fehlt er nie, wie ein Mantra: »Ich meine, du deine.«

Nichts von dem, was Küppersbusch äußert, fordert Zustimmung. Seine Meinungen reizen nicht einmal notwendigerweise zum Widerspruch. Sie sind einfach da, zur Kenntnisnahme. Überwältigen wollen sie höchstens durch Originalität. Ihr Halter wird es verschmerzen, wenn das missglückt. Kommende Woche gibt es wieder frische Meinungen, die Tennisballmaschine steht nie still.

Von links wie rechts herrscht ein übergriffiges Bescheidwissertum

Es ist diese spielerische Gelassenheit, die verloren gegangen ist. Heute herrscht von links wie rechts ein übergriffiges Bescheidwissertum, ein resolutes »Ich meine, du auch meine – sonst blocke ich dich, entfreunde dich, schneide dir mit einem Küchenmesser die Kehle durch!«

Das ermüdet.

Es ermüdet der Umstand, dass Meinungen wie Kampfhähne in jede noch so kleine Manege geschickt werden, mit Rasierklingen an den Krallen. Es ermüdet, dass die Halter der aggressivsten Hähne keine Haltung haben. Nur dummes Geflügel, ohne dessen Geflatter sie aufhören würden zu existieren.

Wer aber eine Haltung hat, der braucht im Prinzip überhaupt keine Meinungen. Er hat eine Haltung zur Welt, der er nicht fortwährend durch das Freilassen von Kampfhähnen beizukommen versuchen muss. Wer eine Haltung hat, ist durch abweichende Meinungen nicht zu kränken oder zu reizen. Ich meine, du deine.

Wer eine Haltung hat, braucht keine Meinungen

Es könnte sogar sein, dass eine gut begründete Meinung ihn überzeugt. Was eine echte Haltung ist, das wäre dadurch nicht zu erschüttern.

Und manchmal ist es angebracht, eine Runde zu schlafen. Guten Gewissens. Unserer Gesundheit, aber auch jener der Gesellschaft zuliebe. Sie kommt ohne unsere Meinungen ganz gut zurecht. Meinungsfreiheit beinhaltet auch die Freiheit, einfach mal keine Meinung zu vertreten oder, umgekehrt, unerhebliche Meinungen nicht einmal abzulehnen, sie gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen. Hin und wieder haben wir Wichtigeres zu tun.

Womöglich ist Meinungsmüdigkeit eine gute, weil lebenswichtige Sache. Und nicht zu verwechseln mit Haltungsmüdigkeit. Beim Einschlafen werden neuronale Netzwerke voneinander entkoppelt, wir verlieren buchstäblich das Bewusstsein. Das Gehirn aber, also die Haltung als Zitadelle meiner emotionalen Intelligenz und biografischen Prägung, existiert weiter.

In der kapitalistischen Verwertungslogik ist das Nickerchen nicht vorgesehen

Und dieses Gehirn weiß durchaus, wovon es träumt und wovor es sich fürchtet. Es weiß durchaus, wem es lauschen und wen es ignorieren kann. Es weiß durchaus, woran es glaubt und was es bezweifelt. Es weiß durchaus, über welches Stöckchen sich der Sprung lohnt. Und es weiß, wo es sein Kreuzchen machen muss, wenn es hart auf hart kommt. Es weiß vor allem, dass es seltener hart auf hart kommt, als es den Eindruck macht.

Nur Maschinen schlafen nie, Algorithmen schnarchen nicht, und in der kapitalistischen Verwertungslogik ist das Nickerchen nicht vorgesehen. Müdigkeit ist ein physiologischer und psychologischer Zustand der Erschöpfung. Ein menschliches Bedürfnis. Wir sollten ihm wieder häufiger nachgeben.

Ich meine, du deine.

Ich habe für die Straßenbahn gestimmt. Und verloren.

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