: Fußballwunder vom Rio de la Plata
Die Nationelf Uruguays will heute abend beim Länderspiel gegen die Bundesrepublik ihren Anspruch auf den Weltmeistertitel anmelden: Ein Stück Geschichte von Jose Leandro Andrade bis Enzo Francescoli ■ Aus Stuttgart Matti Lieske
Uruguay ist ohne Zweifel das größte Phänomen der Fußballwelt. Ein Land mit knapp drei Millionen Einwohnern, das seit Anfang des Jahrhunderts ständig Fußballspieler allererster Güte hervorbringt, das zwei Weltmeistertitel und Olympiasiege errungen hat und dessen Vereinsteams Penarol und Nacional aus Montevideo trotz der permanenten Abwanderung ihrer Stars nach Europa, Brasilien oder Kolumbien immer wieder die „Copa Libertadores“, die lateinamerikanische Meisterschaft, sowie diverse Weltpokale an den Rio de la Plata holten.
Zuletzt war es Nacional, das 1988 in Tokio den siegesgewissen Niederländern vom PSV Eindhoven diese Trophäe wegschnappte.
Bereits 1924 gewannen die Uruguayer das olympische Fußballturnier, ein Kunststück, das sie 1928 wiederholten. Mit von der Partie der Fred Astaire des Fußballfeldes, Jose Leandro Andrade, einer der größten Fußballer aller Zeiten, dem seine Geschmeidigkeit und sein Rhythmusgefühl erlaubten, nebenher als professioneller Tangotänzer aufzutreten. 1930 führte Andrade sein Team vor eigenem Publikum zum ersten Weltmeistertitel, und gern weisen die Uruguayer darauf hin, daß sie bis 1954 bei Weltmeisterschaften ungeschlagen waren.
Ebenso gern verschweigen sie, daß sie vorher nur 1930 und 1950 in Brasilien teilgenommen hatten, wo sie allerdings erneut siegten und mit ihrem Tor zum 2:1 gegen die Gastgeber 200.000 Menschen im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro in stundenlange Sprach- und Reglosigkeit versinken ließen. Die Stars von damals, Schiaffino und Ghiggia, versilberten ihren Ruhm in Italien, wo ihre klangvollen Namen selbst heute noch geläufiger sind als die solch flüchtiger Irrtümer der Geschichte wie, sagen wir, Craxi, Andreotti, Occhetto und Konsorten.
Wer an einem Wochenende in Montevideo die Uferpromenade am Rio de la Plata entlanggeht, bekommt eine Ahnung, woher die Erfolge der „Urus“ rührten. Fußballfelder, soweit das Auge reicht, mindestens die halbe männliche Bevölkerung scheint damit beschäftigt zu sein, dem Ball nachzujagen. Die Fußballbegeisterung in dem Land, das die erste Radioübertragung eines Fußballspiels für sich in Anspruch nehmen kann, ist ungebrochen, auch wenn der spärliche Zuschauerzuspruch in den Stadien dem zu widersprechen scheint.
Dieser ist vor allem der unglücklichen Struktur des nationalen Fußballs geschuldet. Die erste Liga besteht aus vierzehn Teams, die allesamt in Montevideo beheimatet sind, während der Rest des Landes, das „Interior“, eine eigene Meisterschaft austrägt, die vorzugsweise dazu dient, die Hauptstadtclubs mit Talenten zu beliefern. An eine eintönige Punktrunde schließt sich eine öde Meisterschaftsrunde an, und Stimmung kommt nur auf, wenn die rivalisierenden Traditionsclubs Nacional und Penarol aufeinandertreffen.
So geschehen vor einer Woche vor 60.000 Zuschauern im ehrwürdigen Centenario-Stadion, wo sich erst die Spieler mit Füßen und Fäusten beharkten und dann die Fans in den Straßen dasselbe taten.
Derartigen Ungehörigkeiten wird gelegentlich mit unkonventionellen Methoden begegnet. So wurden jüngst zwei Penarol-Fans dazu verurteilt, sich eine halbe Stunde vor Beginn jedes Spiels ihrer Mannschaft auf einer Polizeiwache einzufinden. Verlassen dürfen sie die gastliche Stätte erst eine Stunde nach dem Schlußpfiff.
Erschwerend kam bis vor kurzem hinzu, daß allenthalben jener Fußball gespielt wurde, der den Ruf Uruguays in den letzten beiden Jahrzehnten so ramponiert hat: defensiv, langsam, ultrabrutal. Der Tiefpunkt war die WM 1986 in Mexico, wo die Uruguayer unter Trainer Omar Borras, dem Favoriten der Militärs, inbrünstig versuchten, den Satz von Jorge Luis Borges „Fußball ist eine moderne Form der Barbarei“ zu untermauern. „Geschämt“ habe er sich damals, erzählt der heutige Trainer Oscar Washington Tabarez, ein früherer Grundschullehrer, unter dessen Ägide die Nationalmannschaft endlich wieder an ihre alten Tugenden anknüpfen will.
Die Spieler dazu hat sie ohne Zweifel. In den letzten Jahren hat Uruguay wieder einmal Europa mit einer Fülle von Klassefußballern versorgt. Beim FC Genua geht Carlos Aguilera mit großem Erfolg auf Torjagd, unterstützt von seinen Landsleuten Jose Perdomo und Ruben Paz, in Marseille brilliert Enzo Francescoli, in Spanien wirken Antonio Alzamendi und Pablo Bengoechea und bei Lazio Rom soll der blitzgefährliche Ruben Sosa, in dieser Saison ein wenig auf sich allein gestellt, in der nächsten Saison mit Karl-Heinz Riedle ein gefürchtetes Angriffsduo bilden. Hinzu kommen einige hochtalentierte Nachwuchskräfte, vor allem die 20jährigen Sergio Martinez und Daniel Fonseca.
Selbst ohne die europäischen Stars zeigte Uruguay bei Vorbereitungsturnieren in den USA gute Leistungen. Gegen die Bundesrepublik kann Tabarez zum erstenmal einige seiner „Europäer“ einbauen, muß allerdings noch auf Francescoli und Alzamendi verzichten. Dennoch ist der 43jährige, wie so viele Erfolgstrainer ein ehemaliger Verteidiger, davon überzeugt, daß mit einer großen Leistung gegen die Deutschen heute abend der Sprung in den Kreis der WM-Favoriten gelingen könnte.
Für Tabarez jedenfalls, wegen seines früheren Berufes „Maestro“ genannt, ist der Gedanke, den dritten Weltmeistertitel für sein kleines Land zu gewinnen, nicht im geringsten abwegig. Eine Sicht der Dinge, die er mit drei Millionen Uruguayern gemeinsam hat. Die Erwartungen am Rio de la Plata sind hoch, und Tabarez weiß das nur zu genau: „Wenn sich meine Mannschaft gegen Spanien, Belgien und Südkorea nicht für die zweite Runde qualifiziert, wird es den Maestro nicht mehr geben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen