■ Nachruf auf ein Projekt: Fusions-Tränen
In manchen Zeitungen gibt es die schöne Sitte, Nachrufe über Prominente schon zu deren Lebzeiten zu schreiben. Das spart am Tage X ungemein viel Arbeit. Nachrufe auf politische Projekte hingegen finden sich in den seltensten Fällen in den Schubläden. Es mag daran liegen, daß der Glaube an die Unvorhersehbarkeit politischer Prozesse noch immer größer ist als an die Gesundheit mancher Menschen. Bei der Fusion aber scheint das anders. Je näher der Tag der Volksabstimmung am 5. Mai rückt, umso unwahrscheinlicher wird das Ziel eines gemeinsamen Landes, umso stärker beginnt das Grübeln in den Redaktionsstuben. Auch viele in verantwortlicher politischer Position ahnen das, einige sprechen es sogar schon heute aus. Den Brandenburger SPD-Fraktionschef Wolfgang Birthler verließ erst gestern der Glauben: Er halte zwar eine Mehrheit nach wie vor für möglich, befürchte aber, daß das erforderliche Quorum verfehlt werde. Verflogen ist die Euphorie des Sommers, als die Parlamente dem Staatsvertrag mit Mehrheit zustimmten.
Eine Reihe von Faktoren, auf die die hiesige Politik nur begrenzt Einfluß hat, haben seitdem den Gegnern Auftrieb verschafft: Da sind die katastrophalen Berliner Haushaltsdaten, da ist das konjunkturelle Tief, da ist die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, da ist die in Brandenburg und Ostberlin noch wache Erinnerung an den deutschen Einigungsvertrag. Stärker als geahnt wird die Debatte um das Für und Wider von Emotionen überlappt. Die Schwierigkeiten der Befürworter, die ihrerseits eine bislang wenig professionelle Kampagne an den Tag legten, liegen auf der Hand: Sie müssen mit Aussichten auf Besserung werben, wo es doch derzeit wenig Hoffnung auf eine Wende gibt. Severin Weiland
Siehe Seite 11 und Seite 22
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