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Fun = Lärm & Alk

Die Gruppe ist das Ziel: Freuden und Schrecken einer Skigruppenreise in die französischen Alpen. Die Phantasie von der Gruppendynamik schmilzt beim Kennenlern- und beim Mörderspiel wie der magere Schnee  ■ Von Kraft Wetzel

1. No snow

Unter einem glücklichen Stern stand sie nicht, die Gruppenreise nach Les Contamines, die ich für Ende Januar/Anfang Februar beim Berliner Reiseveranstalter „no limits!“ gebucht hatte. Als wir nach rund 15 Stunden Busfahrt eintrafen in diesem Ort westlich des Mont-Blanc-Massivs im französischen Département Hochsavoyen, war weit und breit kaum Schnee zu sehen. Vertrocknetes, graubraunes Gras, nasse kahle Bäume, hier und da verharschte, ergraute Schneereste: von Winterzauber keine Spur.

Immerhin konnte man Ski fahren, gerade noch so. Das Skigebiet, mit 14 Liften und etwa 85 Pistenkilometern, liegt bis 2.500 Meter hoch; der Schnee dort war immer noch der von Weihnachten. Laut elektronischer Anzeige an der Talstation lagen noch ganze 35 Zentimeter, und die waren morgens bockelhart gefroren, wurden tagsüber zuschanden gefahren an den Engpässen: braune Stellen, Gras, Steine. Und so blieb es während der zehn Skitage, die wir hatten: jeden Tag noch'n bißchen weniger, ein bißchen schäbiger.

Den ersten Neuschnee sahen wir am Abend vor der Abfahrt. In großen Flocken segelte er im gelblichen Licht der Peitschenlampen vor den Scheiben unseres Aufenthaltraumes herab: too late for us...

2. Gruppendynamik im Cyberspace

Für eine Gruppenreise hatte ich mich zum einen entschieden, weil ich beim Skifahren auf der Piste nicht gern allein sein möchte. Ich habe das Skifahren erst spät, mit 30 gelernt, habe immer noch einen Heidenrespekt vor der Droge Geschwindigkeit... und ein wenig Angst, es könnte etwas passieren, ich könnte die Kontrolle verlieren. Da fühle ich mich sicherer, wenn es ein paar Leute gibt, die ab und an Ausschau nach einem halten, am Lift warten und so weiter. Außerdem wollte ich gern etwas dazulernen, einen Skikurs absolvieren.

Zum anderen fasziniert mich Gruppendynamik. Mich locken die unverhofften Möglichkeiten, Fähigkeiten, Schönheiten, die Menschen entfalten können, wenn sie zu einer harmonierenden Gruppe zusammenwachsen. So eine Ferien-Gruppenreise ist ja immer auch ein soziales Übungsfeld, eine Art virtuelle Realität, in der die Beteiligten für eine begrenzte Zeit ein anderes, ein lustvolleres Leben als ihr gewöhnliches proben.

Mich interessieren die Bedingungen, unter denen das, was günstigenfalls passieren kann, auch wirklich zustande kommt. Also: Womit kann man diesem gruppendynamischen Prozeß auf die Sprünge helfen? Und wieviel soziale Kernschmelze ist im Idealfall möglich? Wieviel kreative Energien lassen sich freisetzen auf so einer Probebühne? Bei meiner letzten Ski-Gruppenreise hatte sich unsere Gruppe im Laufe von zwei Wochen in eine Kabarett-Truppe verwandelt; der Beifall von vor drei Jahren, mit dem wir für unser Show-Debüt am letzten Abend überschüttet wurden, klingt mir immer noch in den Ohren.

3. Zudröhnen!

Meine heimliche Phantasie von „Skigruppenreise“ kollidierte nun aber mit der des Reiseveranstalters. „no limits!“ ist hervorgegangen aus S+F-Reisen: Dessen Mitbegründer Andreas Gubler hat sich von seinem bisherigen Geschäftspartner getrennt und nicht nur die gesamte Büromannschaft übernommen, sondern auch die im Firmennamen verkündete Philosophie: Ski+Fun. „Fun“ darf man getrost mit „Party“ übersetzen und „Party“ mit „laute Musik, Alkohol und Abzappeln“. Tagsüber kräftige Dosen an Geschwindigkeit, nach dem Futtern Lärm&Alk, rauchen, reinschütten und zappeln bis zum Abwinken: so in etwa ließe sich die Vorstellung des Veranstalters von „Fun“ umschreiben.

Schon das Kennenlernspiel am ersten Abend bestand daraus, zu jedem der Vornamen ein möglichst hochprozentiges alkoholisches Getränk mit demselben Anfangsbuchstaben memorieren zu müssen. Ich will ja gar nicht bestreiten, daß nicht auch auf diesem Wege Körperpanzer gelockert werden und kreative Energien in Fluß kommen. Aber auf dieser Art von Party werden sie bloß in Lärm gelöst und abgeführt, abgetrieben; nichts bleibt. Statt dessen gibt's morgens, zum Frühstück, die Horrorstories aus der letzten Nacht: wie der eine auf allen vieren sich in intimer Zwiesprache mit seiner Kloschüssel übte ...

4. M is for Murder

Doch unsere Betreuer verabreichten nicht nur Alkoholika. Eines Abends wurde das „Mörderspiel“ in Gang gesetzt, und das ließ immerhin eine Möglichkeit aufblitzen, wie der Umgang mit fünfzig wildfremden Menschen plötzlich spannend werden kann.

Die Spielidee stammt aus einem frühen deutschen Tonfilm, aus „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ von Fritz Lang. Jeder zieht ein Los; wer das M zieht, ist von nun an der Mörder und muß alle anderen umbringen: indem er (oder sie) sie küßt.

Die Opfer tragen sich auf einer Liste ein: Name, Ort und Uhrzeit des Anschlags, und ein Kommentar, wie's denn so war.

Zunächst interessierte ich mich nicht für den Spielverlauf, zumal ich mit den meisten Namen, mit denen sich die im Gemeinschaftsraum ausgehängte Liste zu füllen begann, nichts anfangen konnte: Ich hatte schon beim Kennenlern- spiel am ersten Abend keine Lust verspürt, mir die Namen so vieler Leute einzuprägen. Doch eines Mittags auf der Hütte zogen mich Bernd&Alex, ein ziegenbärtiges Freundespaar aus Berlin, in ihren Bann. Sie waren die einzigen, die die Herausforderung des Spiels annahmen. Sie wollten den Mörder aufspüren.

Wie Sherlock Holmes & Dr. Watson steckten sie die Köpfe zusammen, rekonstruierten, wer wann und wo wie lange zugange war, legten Listen von Verdächtigen an, verzeichneten die neuesten Opfer. Und sie nahmen sich in acht, gingen überall zu zweit hin. Die beiden waren richtig gut: Eine ihrer Hauptverdächtigen war Kerstin, eine füllige Rothaarige, und die war es tatsächlich: Rauchend lauerte sie mir an der Treppe zum ersten Stock auf, als ich, mit nur einem Handtuch bekleidet, aus der Sauna im Keller kam, und verpaßte mir den tödlichen Kuß auf den Hals.

Was mich verblüffte: Sie war nicht allein. Mit ihr standen da und rauchten drei, vier andere Frauen. Erst hinterher wurde mir klar, daß sie sich vor denen nicht mehr in acht zu nehmen brauchte, da die auf ihrer Seite waren: Sie waren schon tot, und offenbar wollten sie, daß auch die übrigen ihr Schicksal teilen sollten. Der Augenblick dieser Erkenntnis, von Untoten umzingelt gewesen zu sein, fuhr mir wie ein Stück Horrorfilm in real- time in die Glieder: vor mir eine Göttin des Todes und ihre Opfer, die zu ihren Gespielinnen wurden – dreidimensional, mit leibhaftigen Schauspielern vor meiner Nase inszeniert.

Ich war eines ihrer letzten Opfer. Bernd&Alex sowie ein dritter Überlebender namens Horst hockten sich beim Abendessen zusammen und warteten nur darauf, bis es vorbei war, um ihre Anklage vorzubringen, das Spiel für sich zu entscheiden: Der Preis war eine Flasche Asti Spumante, wenn ich mich recht entsinne. Doch zwischen Suppe und Hauptgang ging Kerstin noch einmal in die Offensive, verschaffte dem bislang heimlichen Spiel ein grandios öffentliches Finale.

Vor aller Augen marschierte sie schnurstracks auf den Tisch der Überlebenden zu. Bernd sprang auf, sie packte ihn, er sie: „Kerstin! Kerstin!“ brüllte der Saal wie aus einer Kehle, alle Augen gerichtet auf die beiden, die wie zwei Ringer ineinander verkeilt waren: Arm gegen Arm, zwei Schritt vor, einen zurück. Bis zum Ende des Essens hatte Kerstin die beiden Detektive dann soweit, daß sie sich geschlagen gaben und küssen ließen. So fehlte dem letzten Überlebenden für seine Anklage nach dem Essen der erforderliche Zeuge, und Kerstin bekam die Siegesprämie in Silberpapier.

„Kerstin! Kerstin!“ So zusammen, zu einem Leib vereint, war diese Gruppe nur in diesen wenigen Sekunden. Bezeichnenderweise war der Einheit stiftende Konsens ein negativer: Die Opfer waren auf der Seite des Todes, feuerten ihren Mörder an.

5. Home video de luxe

Diese Toten waren sich nicht genug. Sie wollten auch die letzten Lebenden bei sich haben, zu sich herüberholen. Offenbar ist dies ein zutiefst deutsches Spiel: Nachgespielt wird, in homöopathischer Verdünnung, der Untergang des Dritten Reiches, und zwar aus der Nazi-, aus Reichskanzlei-Perspektive. Wenn wir Deutsche schon abtreten müssen, dann wollen wir möglichst viele mitnehmen.

Drei, vier Tage vor der Abreise wurden beim Abendessen Zettelchen verteilt mit Aufgaben: „Sesamstraße+Werbung“ stand auf unserem. Dazu sollten wir uns etwas einfallen lassen, erklärte Anja; sie stehe mit ihrer Videokamera für die „Dreharbeiten“ zur Verfügung, jeder Gruppe eine Stunde.

An unserem Tisch fiel die Anregung auf fruchtbaren Boden. Eine Szenenfolge wurde erstellt, Ideen wurden in die Luft gekritzelt, es wurde viel gelacht. Am besten gefiel mir am Ende die Szene, in der die beiden Berlin-Steglitzer Polizisten den Unterschied zwischen nah und fern erklärten: Der eine, froschäugig und kinderlieb, lockte den anderen, mit einer handgestrickten Rastalockenperücke verkleidet, mit einer Banane an. „Jetzt ist er noch ganz fern“, und dann „Jetzt ist er nah“, erläuterte der Froschäugige.

Ich sollte mir Werbung ausdenken: „Krafts Scheibletten“ und „Krafts Ketchup“ lautete der Auftrag, dem ich mich willig fügte. Bewaffnet mit schottischem Whisky, heckte ich mit Uwe, dem Koch und eigentlichen Chef des Hauses, zwei Szenen im Stile nachmittäglicher Kochsendungen aus. Auf die gängigen Beschwerden, „Krafts Scheibletten“ schmeckten nach nix, antworteten wir tags darauf mit einer sensationellen Enthüllung vor laufender Kamera: Wir deckten ein jahrzehntelang praktiziertes Fehlverhalten in der Verwendung von „Krafts Scheibletten“ auf: Der flache weichliche Käse war weggeworfen worden, statt dessen war immer nur der kleinere gelbliche Teil, der Feuchthalter, gegessen worden!

6. Ein Lichtlein brennt

In Contamines? Waren wir wirklich in Les Contamines? Es hätte auch irgendwo anders sein können: Für diese Gruppe existierte schon kaum der Ort, das Tal drum herum, die nächsten Ortschaften schon gar nicht.

An den letzten Tagen klinkte ich mich vollends aus, sah mir eine Kapelle und eine Kirche an, ging wenigstens ein einziges Mal gut essen. In der Wallfahrtskirche am Ende des Tales, in „Notre Dame de la Gorge“, genoß ich die Stille, kam endlich ein wenig zu mir. Ich zündete eine Kerze an und dachte an meine Geliebte in Berlin.

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