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Für eine Essthetik der Ernährung

Die abendländische Tradition der Leibverachtung, darauf deuten die mageren Interessen der Philosophen an der Kostfrage hin, wirkt bis in unsere Gegenwart hinein. Nicht Sex, sondern das alimentäre Weltverhältnis des Menschen ist tabu

von HARALD LEMKE

„Kennt man die moralische Wirkung der Nahrungsmittel?“, fragt Nietzsche zu Beginn seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ und äußert seine Verwunderung darüber, dass es offenbar keine „Philosophie der Ernährung“ gebe, die die damit zusammenhängenden moralischen Fragen der Lebensführung bedenke. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Und das, obwohl die Philosophie seit einigen Jahren eine sokratische Wende erlebt und wieder verstärkt praktische Überlegungen zu einer Ästhetik der Existenz (Foucault) wie einer Ethik des guten Lebens diskutiert werden. Bislang aber sind eine philosophische Beschäftigung mit dem Essen und Versuche der gastrosophischen Begründung einer Ethik der Ernährung ausgeblieben.

In diesem mageren Interesse der Philosophen an der Kostfrage setzt sich die abendländische Tradition einer theorieverbissenen Leibverachtung und asketischen Genussfeindlichkeit bis in unsere Gegenwart fort und verdrängt dabei das essen-zielle Fundament unseres Selbst. Seit Platon ordnet der moraltheoretische Diskurs die körperliche Bedürfnisbefriedigung dem Bereich heteronomer Notwendigkeiten zu: Während das geistige Wesen und der moralische Wille der Menschen dieselben dazu befähigt, sich ihrer Vernunft und Freiheit zu bedienen, zwingen die leiblichen Bedürfnisse und sinnlichen Begierden ihnen eine alltägliche Unfreiheit und animalische Unvernunft auf.

Die philosophische Tradition wertet die kulinarischen Lebenstätigkeiten zur Nebensache ab; sie degoutiert das alimentäre Selbst- und Weltverhältnis des Menschen. So jedenfalls ließe sich das fortgesetzte Denktabu der Philosophen zu einem ganzen Kontinent des Lebensgeschehens erklären. Im auffälligen Unterschied zum „beredten Schweigen“, das Foucault hinsichtlich der Sexualität konstatiert, dem doppelmoralischen Umgang mit diesem kleineren Gelüste triebhafter Sinnlichkeit, herrscht über die Ernährungsfrage absolutes Schweigen.

Nutritiver Frevel

Der leere und leicht angesäuerte Bauch der Philosophen könnte von der Welt unbeachtet bleiben, wäre nicht gerade ihre Missachtung der menschlichen Ess-istenz, die verächtliche Abwertung des Genusses und die unbekömmliche Geringschätzung des leiblichen Wohles, die ideologische Grundlage für das kulturelle Selbstverständnis der heute vorherrschenden Ernährungsgewohnheiten. Wer diese ändern will, muss ihre untergründige Lebensphilosophie überdenken – jenen nutritiven Funktionalismus, dem es nicht schnell genug gehen kann, mit der Nahrungsaufnahme fertig zu werden, und der nicht viel Gedanken darüber verschwenden will, dass der freiwillige Asketismus der vorherrschenden Essistenzsweise seine weltanschauliche Unterstützung auch aus der traditionellen Gerüchteküche der idealistischen Ästhetik bezieht. Denn weil diese lehrt, dass sich angeblich über Geschmack nicht streiten lässt (de gustibus non est disputandum), wird die individuelle Freiheit im alimentären Lebensbereich heute als das Recht auf einen außermoralischen Subjektivismus aufgefasst. Dass dieser trügerische Geschmacksrelativismus allerlei „moralische Wirkungen“, wie Nietzsche sagte, zu verantworten hat, ist indes kein Geheimnis.

Nicht erst seit dem BSE-Erreger sind die unmoralischen Wirkungen unserer wohlständigen Unersättlichkeit gegenüber Natur, Welt und Leib allgemein bekannt. Immerhin ist die seit der „grünen Revolution“ global durchgesetzte industrielle Landwirtschaft eine Hauptursache für die weltweite Umweltzerstörung und eine artwidrige Tierzucht. Gesundheitliche Schäden, Krebs- und so genannte Zivilisationserkrankungen sind von der fleischlastigen, fetthaltigen und zuckerreichen Fehlernährung verursacht. Zudem belegen viele Veröffentlichungen aus allen Ländern der Welt, dass die Welternährungssituation unverändert ungerecht ist und eine kaum fassbare, globale Fortsetzung der kolonialen Ausbeutung und Verelendung eines Großteils der Menschen bedeutet. Kurz: Wir wissen längst, dass wir unsere Ernährungsgewohnheiten verändern müssten und eine Moral der kulinarischen Vernunft politisch, ökonomisch und kulturell anstünde. Hier stellt sich einer neuen Gastrosophie ein altes Problem der philosophischen Morallehre. Wie kommt das Sollen ins Sein? Sprich: Wer bringt die Moral einer besseren Ernährungsweise in die Welt?

Ein aussichtsreicher und wirksamer Ausgangspunkt für eine Ethik der Essistenz ergibt sich aus der Tatsache, dass Veränderungen im Bereich der Nahrungspraktiken – im Unterschied zu vielen anderen Lebensbereichen – tatsächlich vom Einzelnen ausgehen können. Denn die alimentäre Freiheit beinhaltet eben auch die individuelle Möglichkeit, unser Ernährungsverhalten ändern zu können, wenn wir nur wollen.

Ich denke, diesbezüglich bietet die Kostfrage mehrere delikate Anschlussmöglichkeiten, die sich eine Philosophie der Ernährung in aufklärerischer Absicht zu Eigen machen sollte, um uns auf den Geschmack einer neuartigen Moral der vollmundigen Mündigkeit zu bringen. Gleichzeitig würde sie auch ein wenig vom Nutzen der Philosophie für das (gute) Leben sprechen und so für ihre eigene Sache der Lebenskunst werben. Mindestens drei gute Gründe sprechen für eine Ethik und Ästhetik, eine Essthetik der Ernährung. Zunächst lässt sich – während moralische Appelle zumeist an der Ohnmacht des bloßen Sollens scheitern – eine ökologische Ethik der Küche mit unserem vitalen Eigeninteresse verbinden, nämlich der Lust am eigenen leiblichen Wohlergehen. Dabei sollte der gastrosophisch entscheidende Punkt nicht übersehen werden: In der ernährungsethischen Sorge um sich und seine Gesundheit verhält sich der Einzelne zugleich sowohl ökologisch zu Natur und Nutztier als auch gerecht zu globalen wie lokalen Produktionsbedingungen der gekauften Nahrungsmittel. Demnach kann eine gastrosophische Moral von einem wohlverstandenen Eigeninteresse und einer Lust am Richtigen motiviert sein.

Weiter verlangt eine Ethik der Ernährung keine „saure Pflicht“ gegenüber dem moralischen Gebot, sondern läuft auf eine Essthetik des Wohlgeschmacks und des Genusses hinaus. Jeder mag ganz persönliche Geschmacksvorlieben haben – davon unberührt steht aber außer Zweifel, dass der Geschmackssinn ein ästhetisches Urteilsvermögen darstellt, das jeder aufgrund praktischer Übung, Erfahrung und Sachkenntnis ausbilden und verbessern kann. Die Frage des Geschmacks ist alles andere als subjektiv auch in der Hinsicht, dass es nachweislich schmeckbare Unterschiede zwischen der besseren oder schlechten Qualität von Nahrungsmitteln und Verarbeitungsmethoden gibt. Wäre dies nicht so, wäre jede gastronomische Ausbildung und Auszeichnung ebenso hinfällig wie Lebensmittelkontrollen und der gegenwärtige BSE-Skandal unsinnig. Im Zusammenhang unserer alltäglichen Esspraxis können wir eine Ethik leben, die sogar gut schmeckt.

Neue Gastrosophie

Schließlich verlangt die Veränderung der vorherrschenden Ernährungsgewohnheiten neben der Bereitschaft, mehr Geld für die bessere Qualität der Produkte aufzubringen, insbesondere mehr Zeit, die den kulinarischen Betätigungen alltäglich einzuräumen ist. In einer Ästhetik der Esskultur beweist sich insofern eine individuelle Lebenskunst, die das Gelingen der eigenen Existenz nicht nur an der Berufstätigkeit misst, sondern auch anderen Dingen im Leben einen eigenen Wert beimisst. Eine Gastrosophie weist so am Beispiel der Esskunst eine ethische Alltagspraxis aus, in der ein genussvolles Stück Individualität und gutes Leben verwirklicht werden kann. Die jenseits der Geschlechter neu zu entdeckende Kochkunst bietet sich als kultivierbarer Inhalt einer zukünftigen Lebensweise an, die zu einer Subpolitik der gesellschaftlichen Veränderung durch eine Individualmoral beiträgt und das moralisch allgemeine Gute daran zu genießen weiß.

Zweifelsohne ist auch die Politik gefragt. Sie muss die agrarindustrielle Bevormundung der Verbraucher (durch die minderwertige Qualität der Erzeugnisse) ebenso wie seine lebensmittelindustrielle Entmündigung (durch den Einsatz künstlicher Geschmacks- und anderer Zusatzstoffe, durch bewussten Kennzeichungsbetrug) verhindern. Doch auch bei einer solchen umfassenden Aufklärungspolitik könnten die nötigen Veränderungen nicht allein über staatliche Macht gegen die Profitinteressen der Wirtschaft durchgesetzt werden. Wer bloß darauf wartet, dass die Politiker die Dinge verbessern, „weil sie ja schließlich durch falsche Gesetze und mangelhafte Kontrolle die Missstände verschuldet“ hätten, demonstriert eine Obrigkeitsmentalität, die sich jede Änderung des eigenen Verhaltens nur als Gehorsam gegenüber Gesetz und Recht zu denken vermag. Eine solche Sittsamkeit ist verbreitet und ein Teil des vorherrschenden Wahnsinns. Dass wir wider besseres Wissen und trotz der realen Veränderungsmöglichkeiten uns gleichwohl an bequemer Fertigkost (so genannten Convenience-Produkten) gütlich tun, erweist sich deshalb als „selbst verschuldete Unmündigkeit“ (Kant). Der aufgeklärte Ausgang aus derselben steht uns jederzeit durch ein verändertes, vollmündiges Ernährungsverhalten offen. Niemand zwingt uns zur Konformität gegenüber den vorherrschenden Ernährungsgewohnheiten, auch das für eine bessere Ernährung erforderliche Geld nicht, das wir aber lieber für andere, wichtigere Dinge ausgeben wollen. Die königliche Macht des mündigen Konsumenten, die wirtschaftlichen Strukturen gegen sich selber funktionieren zu lassen, bleibt ungenutzt. Stattdessen wird, weil billiger und nebensächlich, die kollektive Unvernunft eingekauft. – Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Geschmacks zu bedienen, könnte der Wahlspruch der kulinarischen Selbstaufklärung lauten.

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