: Frühlingsgefühle der Honigbiene
■ Interessant, aber nicht bewegend: Wedekinds „Frühlings Erwachen“ am Oldenburger Theater
Was geschieht mit Wendla? Wird das Mädchen von Melchior vergewaltigt, lässt sie sich verführen? Oder verführen die beiden einander? Derartige Unklarheiten eines Dramentextes sind für den Regisseur stets ein willkommener Anlass, mit einer ganz eindeutigen Interpretation dem Werk seinen Stempel aufzudrücken. Nicht so für Jürgen Zielinski. Der Regisseur der nun im Oldenburger Staatstheater zu sehenden Kindertragödie „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind versucht stattdessen, sich der schillernden Vorlage so textgetreu wie möglich zu nähern.
Die Schicksale dreier vollkommen unterschiedlicher Kindercharaktere werden von Wedekind unglückselig miteinander verstrickt. Da sind zunächst die beiden Schulfreunde Moritz Stiefel (gespielt von Christopher Novák), ein selbstquälerischer und ängstlicher Schüler, der sich von den Leistungsanforderungen seines strengen Vaters überfordert fühlt und Melchior Gabor (Alexander Kalouti), ein scheinbar gefestigter, tolerant erzogener Realist. Zu ihnen gesellt sich schließlich noch das Mädchen Wendla Bergmann (Anja Vesper), das von seiner Mutter in Unwissenheit über alles Geschlechtliche gehalten wird. Wie viele Angebote für Interpretationen sind in diesem Stoff enthalten! Und doch: Wie groß ist zugleich die Gefahr, hierbei Wedekinds tiefenpsychologisches Drama von 1891 auf ein bloßes Plädoyer für Sexualaufklärung zu reduzieren.
Diese Befürchtung scheint sich zu bestätigen, als gleich zu Beginn der Aufführung ein Lehrfilm über die Blütenbestäubung mit den Hauptdarstellern „Glockenblume und Honigbiene“ gezeigt wird. Doch die Ängste erweisen sich wenig später als unbegründet: Zielinskis sehr vorsichtige, um zeitgenössische Fiktion bemühte Inszenierung vernachlässigt nicht die Bedeutung der Pubertätsnöte außerhalb der Sexualität. Bereits die im hinteren Bühnenraum positionierten Objekte (überlebensgroßes Heuschreckenmodell, Büsten von Dichtern und Denkern), die in Glaskästen ausgestellt einen Hauch von Schulatmosphäre verbreiten, deuten auch auf die Problematik eines zu hohen Leistungsdrucks hin. Zwar kommen Moritz' anerzogene Hemmungen im Umgang mit Sexualität in seinen Dialogen mit Melchior zum Ausdruck. Doch wird der Aspekt der Sexualität nicht überbewertet. Es handelt sich hierbei allenfalls um ein Nebenproblem im Vergleich zu den Leistungsanforderungen, denen sich Moritz durch seinen Vater ausgesetzt sieht und die schließlich zum Selbstmord des versetzungsgefährdeten Schülers führen. So wird die Inszenierung der vielschichtigen Seelenlage der Figur, die schließlich auch in ihren Monologen immer wieder deutlich wird, gerecht.
Der Zuschauer erfährt auf diese Weise das Scheitern dreier verschiedener Erziehungsmodelle; die ständige Forderung von Leistung, die Ausübung weitgehender Toleranz, sowie die Tabuisierung von Sexualthemen. Dieses weite Spektrum auf die Bühne zu bringen ist viel spannender als eine reine, einspurige Gesellschaftskritik. Wendla kann aufgrund der Tabuisierung von Sexualität nicht begreifen, was mit ihr geschieht, als es (wie es im Programmheft heißt) zur „sexuellen Begegnung“ mit Melchior kommt. Sie wird schwanger und stirbt schließlich an einer von ihrer Mutter veranlassten Abtreibung. Melchiors tolerante Erziehung erweist sich damit ebenfalls als gescheitert: Seiner aus der Erziehung resultierenden Zwanglosigkeit gibt er die Schuld an Wendlas Tod.
Und wie verhält es sich nun mit Zielinskis Interpretation der „sexuellen Begegnung“? Auch hier bleibt er vorsichtig, entschließt sich nicht zu einer eindeutigen Darstellung. Wendla und Melchior sinken umschlungen zu Boden; ob die schwache Verteidigung des Mädchens eine Koketterie ist oder ob sie sich zu stärkerer Gegenwehr nicht in der Lage sieht, bleibt offen.
Bei einer solch konservativen Inszenierung wirkt es oftmals befremdlich, wenn dann doch unversehens Elemente des modernen Theaters in die fiktive Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts einbrechen. Doch gerade die akustischen und optischen Effekte, wie die gespenstisch wirkende grüne Beleuchtung der Riesenheuschrecke oder eine Filmsequenz mit Begleitmusik retten die Inszenierung vor drohender Langeweile. Die ist nämlich nicht fern, wenn außer Alexander Kalouti in seiner Rolle als Melchior Gabor kein Hauptdarsteller in der Lage ist, den existentiellen Konflikt seiner Figur spürbar werden zu lassen.
An Christopher Nováks Darstellung des Moritz Stiefel wirkt es nicht glaubhaft, dass dieser betrübte, aber gleichwohl offenbar nicht gerade verzweifelte Junge schon kurz vor einem Selbstmord stehen soll. Und Wendla (Anja Vesper) zeigt nach der Erkenntnis ihres Zustandes keineswegs die Veränderungen, die man bei einem Mädchen nach einer solch wesentlichen Offenbarung erwarten könnte. So wird dem Theaterbesucher ein interessantes, aber kein wahrhaft bewegendes Schauspiel geboten. Man hätte gewiss mehr daraus machen können – aber auch weniger. Johannes Bruggaier
Weitere Aufführungen: 11., 24. Februar, 3. und 17. März, 19.30 Uhr, Staatstheater Oldenburg. Infos: 0441/2225111
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