: Frischobst mit dem Nährwert von Dosenfrüchten, Hühner, deren wahres Alter man weder riecht noch sieht, junger Whisky mit dem Bouquet vieler Jahre im Holzfaß – all dies wird möglich, wenn das Europäische Parlament morgen die ionisierende Bestrahlung von Lebensmitteln zuläßt. Die deutsche Lebensmittelindustrie, der bei Transport und Lagerhaltung leicht verderblicher Produkte Wettbewerbsnachteile entstehen, verlangt nach dieser Technologie Von Peter Sennekamp
Da lacht der Champignon
Es ist spät. In der Großmarkthalle liegen noch einige hundert Hühnchen aus der letzten Lieferung von vorgestern. Doch Käufer finden sie heute nicht mehr. Macht auch nichts. Denn in einigen Stunden werden die proper aussehenden und geruchsfreien Tierchen erneut unter der Strahlenkanone einer Lebensmittelbestrahlungsanlage landen. Neu deklariert als Frischfleisch. Mit einer zweiten Dosis Gammastrahlen beschossen und ausgestattet mit neuen Papieren sind sie über jeden Verdacht erhaben. Am nächsten Tag werden sie erneut im Großhandel angeboten. Science-fiction? Keineswegs, sondern lediglich die Ausnahme, die die Regelungen zukünftiger Lebensmittelbehandlung bestätigen könnte.
Morgen wird das Europäische Parlament (EP) über die Zulassung ionisierender Bestrahlung von Lebensmitteln zwecks Konservierung, Blockierung von Reifeprozessen und Abtötung von Keimen abstimmen. Entscheiden sich die Abgeordneten für den Richtlinienvorschlag der EU- Kommission, so steht künftig europaweit eine Bestrahlung von Fisch, Fleisch, Obst, Gemüse und Getreide ins Haus – die Liste kann beliebig erweitert werden.
Bislang lehnte die Mehrheit der EU-Staaten eine Strahlenbehandlung ab. Zu kontrovers waren die Positionen: In acht Verhandlungsjahren brachte der Europäische Rat, in dem die jeweiligen europäischen Fachminister (in diesem Verfahren die Gesundheitsminister) tagen, keinen „Gemeinsamen Standpunkt“ zu Papier. Nun aber soll sich alles ändern, obwohl Schweden im Rat auch weiterhin die Bestrahlung ablehnt. Auch Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) trat öffentlichkeitswirksam gegen die Strahlenkonservierung und für ein EU-weites Verbot auf. Doch jüngst schwenkte die Bundesregierung um: Das EP solle dem Kommissionsvorschlag grünes Licht geben, empfahl sie.
Mittels ionisierender Wirkung von Gammastrahlen aus den Radionukliden Cäsium 137 und Kobalt 60 sowie aus Röntgenstrahlen und durch Elektronenbeschuß, so der Vorschlag der EU-Kommission, darf künftig konserviert werden – trotz chemischer Zersetzungsprozesse in den bestrahlten Lebensmitteln und Vitaminverlusten.
Stimmt das EP dem jetzt zustande gekommenen Kommissionstext zu, so tritt die „Bestrahlungsrichtlinie“ umgehend in Kraft. In Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und Frankreich werden einige Lebensmittel, u.a. Gemüse, Fleisch, Kartoffeln und Früchte bereits heute bestrahlt. Hinzu käme dann eine „Positivliste“, auf der weitere Lebensmittel gelistet und in allen europäischen Staaten zur Bestrahlung freigegeben würden. Mit der Ausarbeitung der Liste wird der nichtöffentlich tagende „Wissenschaftliche Lebensmittelausschuß“, ein Gremium europäischer Lebensmittelforscher, befaßt. Bislang hält dieses Gremium alle Beschlüsse geheim, wie die zuständige EP-Berichterstatterin Undine von Blottnitz (Grüne) kritisierte.
Auf Vorschlag der Kommission sollen die bestrahlten Produkte mit einem Symbol und einer winzigen Unterzeile „Treated by irradiation“ versehen werden. Doch das Symbol selber ist von bekannten Umwelt- und Ökolabeln kaum zu unterscheiden. Daß die bestrahlten Produkte in ihrer chemischen Zusammensetzung und Vitaminmenge degeneriert sind, dürfte damit den Konsumenten vorenthalten bleiben. Denn äußerlich sind die bestrahlten nicht von frischen Waren zu unterscheiden, obwohl die von der Kommission vorgeschlagene „durchschnittliche Gesamtdosis von 10 Kilo-Gray“ chemische Änderungen in der gleichen Größenordnung wie klassische Erhitzungsmethoden (Pasteurisieren, Kochen, Sterilisieren) hervorrufen.
Anlaß zur Kritik liefert der Richtlinienvorschlag auch an anderer Stelle: Mit der Bestrahlung können bereits von Keimen befallene Lebensmittel je nach Bestrahlungsdosis wieder entkeimt werden. Beispiele in der Vergangenheit belegen dies: Bereits Ende der achtziger Jahre hatten englische und dänische Seefruchtgroßhändler verdorbene Garnelen und Muscheln zur Bestrahlung in die Niederlande verfrachten lassen, um sie anschließend widerrechtlich auf den heimischen Märkten zu verkaufen. Eine Kontrolle gegen diese Vergehen möchte die Kommission zwar mit einer eigens einzurichtenden und äußerst kostenträchtigen Kontrollbehörde sicherstellen. Doch mehr als Stichproben, wie die Sprecherin des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz, Irene Lukassowitz, sagt, können die zuständigen Stellen ohnehin nicht durchführen. Nur ein winziger Anteil der heutigen Warenfülle ließe sich noch kontrollieren, so die Sprecherin. Sie räumt auch ein, daß Hygienemängel mittels Bestrahlung kaschiert werden könnten. Die zuständige EP-Berichterstatterin Undine von Blottnitz von den Grünen teilt diese Sorge: „Die Auflage der Rahmenrichtlinie, daß nur frische und verkaufsfähige Lebensmittel bestrahlt werden dürfen, bleibt ein frommer Wunsch“.
Die Fraktionen im Europäischen Parlament haben inzwischen rund 120 Änderungsanträge für die Abstimmung am Mittwoch eingereicht. Dem weitreichendsten Antrag der Grünen-Fraktion werden dabei nur geringe Chancen eingeräumt. Er enthält die zentrale Forderung: Bestrahlung dürfe nur zulässig sein, wenn keine andere Konservierungsmethode möglich ist. EU-Beobachter vermuten, daß Bonn über die EU-Entscheidung versucht, das schärfe deutsche Recht auszuhebeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen