Friedenspreis für Swetlana Alexijewitsch: Chronistin des Leidens
Sie gilt als moralisches Gedächtnis der zerfallenen UdSSR. Nun hat die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten.
FRANKFURT/MAIN dpa | Die weißrussische Autorin und Regimekritikerin Swetlana Alexijewitsch hat am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegengenommen. Gut zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums zog die Schriftstellerin in ihrer Dankesrede eine pessimistische Bilanz. „Es gibt wenige Gewinner, aber viele Verlierer“, sagte die 65-Jährige. „Wir hatten gedacht, der Kommunismus sei tot, aber diese Krankheit ist chronisch.“
Nach der Begründung des Stiftungsrats wird Alexijewitsch als eine Schriftstellerin geehrt, „die die Lebenswelten ihrer Mitmenschen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine nachzeichnet und in Demut und Großzügigkeit deren Leid und deren Leidenschaften Ausdruck verleiht“. An der Verleihung der renommierten Auszeichnung, die mit 25.000 Euro dotiert ist, nahm auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) teil.
Als die „Archäologin der kommunistischen Lebenswelt“ würdigte Laudator Karl Schlögel die Autorin. „Als Schriftstellerin hat sie gegen die autoritären Regime im postsowjetischen Raum, nicht nur in Belarus, nichts aufzubieten als ihr Wort - beharrlich, furchtlos, ergreifend“, sagte der Historiker.
Mit dem seit 1950 vergebenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels werden Persönlichkeiten geehrt, die vor allem auf den Gebieten Literatur, Wissenschaft oder Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat. Überreicht wird die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung stets zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche, wo 1848 die für die demokratische Entwicklung Deutschlands bedeutende Nationalversammlung tagte. Zu den bekanntesten Preisträgern gehören Albert Schweitzer (1951), Hermann Hesse (1955), Astrid Lindgren (1978), Siegfried Lenz (1988), Mario Vargas Llosa (1996), Jürgen Habermas (2001) und Orhan Pamuk (2005). (dpa)
Alexijewitsch, die als moralisches Gedächtnis der zerfallenen Sowjetunion gilt, lässt in ihren dokumentarischen Werken die einfachen Menschen und Vergessenen zu Wort kommen. Mit Büchern über Tschernobyl, den sowjetischen Afghanistankrieg oder die Rolle der Frauen beim Sieg der Roten Armee gegen Hitler-Deutschland ist sie zur Chronistin des Leidens geworden. In ihrem neuen Werk („Secondhand-Zeit“) hat sie die erschütternden Gefühlswelten der Menschen nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums offengelegt.
Zu denen gehen, die keine Stimme haben
Auch in ihrer Rede in der Paulskirche zitierte sie viele Stimmen aus ihren Büchern. „Die Gesichter verschwinden aus meiner Erinnerung, die Stimmen aber bleiben.“ Sie schreibe seit fast 40 Jahren an einem einzigen Buch, an einer russisch-sowjetischen Chronik aus Revolution, Gulag, Krieg. „Ich gehe zu denen, die keine Stimme haben. Ich höre ihnen zu, höre sie an, belausche sie.“
Nach mehr als zehn Jahren im Ausland lebt Alexijewitsch wieder in Minsk. Ihre Werke sind dort verboten und werden über Russland – dort können sie gekauft werden – eingeschmuggelt. Die Geschichte wiederhole sich, sagte Alexijewitsch. „In meinem kleinen Weißrussland gehen Tausende junge Leute erneut auf Straße. Sitzen im Gefängnis. Und reden über die Freiheit.“
Der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Gottfried Honnefelder, bezeichnete Alexijewitsch als Schriftstellerin ganz neuer Art. Die 65-jährige habe ihre ganze Kraft dazu verwandt, „diejenigen lebendig und hörbar werden zu lassen, deren Stimmen stumm bleiben“. Es könne keinen Frieden geben, wenn Menschen oder ganze Gruppen stumm gemacht würden.
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