Friedenspolitik in Kriegszeiten: Zurück auf null

Die europäische Friedensstrategie muss neu aufgestellt werden. Abschreckung und Kooperation gehören gleichermaßen dazu.

: Ein Mann balacniert auf dem Drahtsein, hält an einer Seite eine kleine Rakete, an der anderen einen Stapel Abkommen

Illustration: Katja Gendikova

Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine ist die internationale Ordnung wieder am Anfang. Back on Square One. Noch ist der Krieg nicht zu Ende und die Gefahr einer weiteren Eskalation nicht gebannt. Der Einsatz chemischer und sogar nuklearer Waffen ist ein reales Risiko. In den zerbombten Städten leiden, hungern und sterben die Menschen. Der Begriff „humanitäre Katastrophe“ beschreibt die Situation nur unvollkommen. Parallel wird verhandelt.

Ob es aber wirklich um einen Waffenstillstand oder gar ein Friedensabkommen geht, ist unklar. Denn angesichts der fortgesetzten Brutalisierung des Krieges weiß niemand, ob die russische Seite nicht nur Zeit gewinnen will, um sich neu zu formieren und den nächsten Angriff zu starten.

Kann man, darf man in dieser Situation eines menschenverachtenden Krieges, mit dem der russische Präsident allem Anschein nach seine großrussische Vision und den russischen Großmachtstatus herbeibomben will, über eine zukünftige Friedensordnung reden?

Muss es nicht jetzt allein um die Kriegsbeendigung, um das Verhindern weiterer Eskalation gehen? Um die Frage, welche Waffensysteme und Ausrüstung die Streitkräfte benötigen, mit welchen Waffen man der Ukraine noch helfen könnte, wie die Ostflanke der Nato verstärkt werden kann, um Russland von möglichen weiteren Feldzügen abzuhalten?

Das alles ist nötig. Und doch ist es auch wichtig und richtig, schon jetzt über das „Danach“ des Krieges und eine zukünftige Friedens- und Sicherheitsordnung nachzudenken und diese intellektuell und praktisch zu planen. Denn das Ende des Friedens darf nicht das Ende der Friedenspolitik sein. Dieser Krieg könnte noch lange dauern, aber er wird irgendwann zu einem Ende kommen. Was kommt danach? Wie umgehen mit diesem Russland, wie mit den gemeinsamen Institutionen und Vertragswerken?

Die europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur, wie sie in den letzten dreißig Jahren aufgebaut wurde, liegt in Trümmern, und auch die internationale regelbasierte Ordnung ist stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Krieg in der Ukraine und die Tatsache, dass er im UN-Sicherheitsrat nicht verurteilt wurde, machen deutlich, dass die gemeinsamen Normen und Institutionen internationaler Politik nicht länger geteilt werden.

Keine Selbstverteidigung

Nicht im Entferntesten kann der Krieg als Selbstverteidigung im Sinne des Artikels 51 der UN-Charta gerechtfertigt werden. Eine Bedrohung Russlands war von keiner Seite gegeben. Auch die Rede vom Genozid an der russischstämmigen Bevölkerung oder neuerdings der Vorwurf, die Ukraine hätte mit den USA einen Biowaffenangriff auf Russland geplant, entbehren jeglicher Plausibilität.

Nein, dies war ein kaltblütiger Angriffskrieg einer Großmacht, um ihre geopolitischen Machtinteressen durchzusetzen. So hat es auch China verstanden, das sich weigert, diesen Krieg zu verurteilen, weil die Verantwortung dafür angeblich bei der Nato liege, die zu stark in die Interessensphäre Russlands vorgedrungen sei.

Nun ist das Gewaltverbot der Vereinten Nationen schon öfter für tot erklärt worden, als es Zeitenwenden in der deutschen Außenpolitik gegeben hat, und Russland ist keinesfalls die erste Großmacht, die das Völkerrecht bricht und einen Krieg beginnt. Aber in der Offenheit, mit der hier Großmachtpolitik zum rechtfertigenden Grund wird, um das Völkerrecht beiseitezuschieben, ist es nur selten geschehen. Nicht nur in der deutschen Außenpolitik, auch global sehen wir eine Zeitenwende.

Noch gravierender ist die Lage auf dem europäischen Kontinent. Mit dem Einmarsch in die Ukraine ungeachtet aller Gespräche und Verhandlungsangebote hat Putin die Europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur zertrümmert. Diese Ordnung war im Kalten Krieg entstanden, in der Schlussakte von Helsinki 1975 niedergelegt, mit der Charta von Paris 1990 weiterentwickelt und im Rahmen der OSZE und dem Europarat in ein bindendes Vertragssystem überführt worden.

Sie basierte auf den Grundpfeilern von territorialer Integrität, souveräner Gleichheit aller Staaten und der Pflicht zur friedlichen Konfliktbeilegung. Dieses System kooperativer Sicherheit, gestützt auf gemeinsame Rüstungskontrollverträge und vertrauensbildende Maßnahmen, aber auch die Förderung von Demokratie und Menschenrechten, war verantwortlich für die friedliche Überwindung des Kalten Krieges.

Viele seiner Elemente, von der Rüstungskontrolle bis hin zur Menschenrechts- und Demokratieförderung, waren zuletzt in die Krise geraten. Aber erst der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die Ordnung zum Einsturz gebracht, weil er das Vertrauen der Mitglieder in diese Ordnung erschüttert.

Die alte Ordnung ist nicht mehr

Einen Weg zurück zur Friedens- und Sicherheitsordnung, wie wir sie kannten, wird es nach diesem Krieg nicht geben. Gegenwärtig zeichnet sich ein Rückbau der Beziehungen zu Russland und möglicherweise auch zu China ab, und zwar politisch, wirtschaftlich und kulturell. Politisch hat der Rückbau längst begonnen. Russland ist aus dem Europarat ausgetreten, nachdem ihm das Stimmrecht entzogen worden ist.

Die Nato-Russland-Grundakte ist obsolet, und Russland hat wiederholt angedeutet, es könnte sich aus so wichtigen internationalen Institutionen wie der OSZE, der letzten paneuropäischen Sicherheitsorganisation, und der OPCW, die für die Einhaltung der Chemiewaffenkonvention zuständig ist, zurückziehen.

Auch wirtschaftlich zeichnet sich ein Rückbau der Beziehungen ab. Hier markieren die umfassenden Sanktionspakete der letzten Wochen den Beginn einer sich rasch beschleunigenden Entflechtung, bei der sich auch Unternehmen, die nicht direkt von den Sanktionen betroffen sind, aus Russland zurückziehen. Hinzu kommt die Diskussion über eine längerfristige Entflechtung etwa im Energiesektor, aber auch mit Blick auf andere kritische Infrastrukturen und tief integrierte Lieferketten.

Ziel ist es, Verwundbarkeiten zu reduzieren und Resilienz zu steigern, denn die russischen Drohungen, den Gashahn zuzudrehen, haben unmissverständlich deutlich werden lassen, dass wirtschaftliche Verflechtung auch als Waffe genutzt werden kann.

Das ist dann möglich, wenn einer der Partner eine zentrale Position in einem Netzwerk oder einer Lieferkette einnimmt, die es ihm ermöglicht, Dienstleistungen oder Ressourcen zu blockieren, wie die USA durch die Bedeutung des amerikanischen Dollars im Finanzsektor oder Russland gegenwärtig im europäischen Energiemarkt.

Entflechtung zeigt sich aber auch im Bereich der Kultur. Schon jetzt sind wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen zu Russland weitgehend eingefroren oder suspendiert. Russische Fernsehprogramme und Sender sind in vielen europäischen Ländern und den USA abgeschaltet. Sportliche Großveranstaltungen in Russland werden abgesagt und das internationale Olympische Komitee empfiehlt seinen Mitgliedsverbänden den Ausschluss von Sportlerinnen und Sportlern aus Russland bei internationalen Wettbewerben.

Die Gefahr ist, dass bei einem unkontrollierten Rückbau und dem Versuch, einseitige Abhängigkeiten und die daraus resultierenden Verwundbarkeiten zu reduzieren, Beziehungen zerstört werden könnten, die für beide Seiten weiterhin wichtig sind.

Die zu beobachtenden Overcompliance-Effekte, die viele Unternehmen mit Blick auf die Sanktionspakete dazu bringen, sich präventiv oder viel weitreichender aus Russland zurückzuziehen als nötig, sind dafür ebenso ein Beispiel wie der Abbruch wissenschaftlicher Kooperationen oder die Aufkündigung der noch verbleibenden politischen Vertragswerke.

Kontrollierte Entflechtung

Je drastischer die Verbindungen zwischen Russland und Europa abnehmen, desto schwieriger wird es zukünftig, Einblick in die russische Realität zu bekommen, Verständnis für einander aufzubringen und letztlich basales Vertrauen, und sei es nur in die Verlässlichkeit der jeweils anderen Seite, wieder aufzubauen. Statt eines unkontrollierten Rückbaus der Beziehungen, statt überstürzter Aufgabe gewachsener Verbindungen, brauchen wir eine Strategie der kontrollierten Entflechtung.

Denn trotz des Krieges in der Ukraine und entgegen einer zurzeit wieder populären Meinung, ist die Idee von der Annäherung durch Handel, ist die Idee, dass Interdependenz zu friedlichen Beziehungen beiträgt, keineswegs gescheitert. Der Krieg macht nur deutlich, dass Handel den Frieden nicht alleine sichern kann, insbesondere dann nicht, wenn er zu asymmetrischen Verhältnissen und einseitiger Verwundbarkeit führt und wir es mit einem potenten Aggressor zu tun haben.

Den kann nur glaubwürdige Abschreckung aufhalten, aber keine Normen und Handel. Umgekehrt ist aber ebenso wahr, dass Abschreckung allein keinen nachhaltigen Frieden hervorbringen kann, sondern, zumindest unter Atommächten, zum Ritt auf der Rasierklinge zu werden droht. Die vielen Beinahekatastrophen im Kalten Krieg, am besten wohl die Kubakrise, versinnbildlichen diese Problematik.

Die Lehre aus diesen Krisen war die Erkenntnis, dass es ohne basale Kooperation nicht gehen kann. Die Einrichtung eines „heißen Drahtes“ zwischen Washington und Moskau und der vorsichtige Aufbau gemeinsamer Kooperationsbeziehungen in der Entspannungspolitik war dieser Einsicht geschuldet.

Die Erfahrungen des Kalten Krieges sind wichtig, aber sie können schon deswegen keine Blaupause für die Zukunft sein, weil mit China ein weiterer starker Player die Weltbühne betreten hat und die Klimakrise uns zu gemeinsamem Handeln zwingt. Über das Danach des Krieges nachzudenken bedeutet deshalb, neu zu überlegen wie Abschreckung und Kooperation im 21. Jahrhundert zusammengedacht und miteinander verschränkt werden können. Wir müssen beides wieder zusammendenken. Wir sind zurück am Anfang.

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ist Professorin für Internationale ­Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt und Co-Direktorin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

ist Professor für Inter­nationale ­Organisationen an der Goethe-Universität Frankfurt und Co-­Direktor des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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