: Freiheit für Peter-Jürgen Boock!
■ "Die scharfen Urteile gegen die Angehörigen der RAF und ihres Umfeldes bestätigen es: hier fehlt gegenüber den Tätern jene milde Nachsicht, die einem bei den NS-Prozessen geradezu ins Gesicht springt"
Ralph Giordano Freiheit für Peter-Jürgen Boock!
Ich fordere Freiheit für Peter-Jürgen Boock von einer Justiz -der bundesdeutschen - , die nicht nur keinen einzigen Richter des nationalsozialistischen Enthauptungswesens mit seinen über 32.000 Todesurteilen je rechtskräftig verurteilt hat, ja, die meisten von ihnen überhaupt nie anklagte, sondern die sich auch schamlos selbstamnestierte, indem sie die Mörder in der Robe über die ganze Bandbreite ihrer Hierarchie bis in die obersten Ränge weiterbeschäftigte.
Ich, überlebendes Opfer der nationalsozialistischen Rassenverfolgung, fordere Freiheit für Peter-Jürgen Boock von einer Justiz - der bundesdeutschen - , die Kammergerichtsrat Hans-Joachim Rehse, Beisitzer am „Volksgerichtshof“ des Roland Freisler mit der aktenkundigen Signatur von 230 Todesurteilen, freisprach; von einer Justiz, die diesen „Volksgerichtshof“, solange seine denunziatorischen Zulieferer angeklagt waren, unmißverständlich als das charakterisierte, was er war nämlich ein „Terrorinstrument ohne jede Rechtsabsicht“, ehe sie Freislers Todesurteilsfabrik dann, als Richterkollegen angeklagt wurden, umwandelte in ein „unabhängiges Gericht“, dessen Angehörige „nur ihrem eigenen Gewissen unterworfen“ gewesen seien.
Von dieser Justiz - der bundesdeutschen - , fordere ich Freiheit für Peter-Jürgen Boock!
Für Peter-Jürgen Boock, der sagte und schrieb - ich glaube ihm -: „Ich habe nie auf einen Menschen geschossen“, und der dennoch im Revisionsverfahren zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, nachdem die erste Instanz ihm dreimal lebenslang plus 15 Jahre Haft zudiktiert hatte.
Wie aber geht die bundesdeutsche Justiz mit vielhundertfachen Nazi-Mördern um? Als langjähriger Beobachter und Berichterstatter der NS-Prozesse vor bundesdeutschen Schwurgerichten greife ich beliebige Beispiele aus einem beliebigen Verfahren heraus, dem gegen das „Einsatzkommando Tilsit“ in Ulm, zehn Angeklagte, denen vorgeworfen wurde, 1941 in einem 25 Kilometer breiten Streifen des deutsch-litauischen Grenzgebietes alles jüdische Leben ausgelöscht zu haben. Einem der Angeklagten 3 Jahre Haft für 526 Morde - wurde bescheinigt, er sei bemüht gewesen, „bei der Erschießung die Form zu wahren“. Ein anderer - 4 Jahre Haft für 423 Morde - habe „eine schwere Jugend“ gehabt, mache einen „etwas einfältigen Eindruck“ und sei „gefühlslabil“. Einem dritten - ebenfalls 3 Jahre Haft für 526 Morde - wurden „weiche Veranlagung“ und „Minderwertigkeitsgefühle“ zugute gehalten ...
Ich fordere Freiheit für Peter-Jürgen Boock von einer Justiz - der bundesdeutschen - , die in all diesen Fällen, Hunderten und Aberhunderten nicht auf „Mord“, sondern auf die mildernde „Beihilfe zum Mord“ erkannte, nachdem sie Hitler, Himmler und Heydrich zu „Haupttätern“ erklärt hatte, einen Paragraphen, dem sie keinem einzigen Angeklagten der RAF je konzediert hat - Schlupfloch in dem gesamten Schlupfloch-System, das die bundesdeutsche Justiz zur Entstrafung der NS-Täter gezimmert hat. Ich fordere Freiheit für Peter-Jürgen Boock von einer Justiz - der bundesdeutschen - , die das dirigierende, das planerische, das intellektuelle Element des NS-Vernichtungsapparates, ihren bürokratischen Motor unter dem Dache des Reichssicherheitshauptamtes Berlin nahezu gänzlich ungeschoren ließ. Etwa Otto Bovensiegen, Chef der größten, der Berliner Gestapoleitstelle, unter anderem verantwortlich für die Deportation von 35000 Juden aus der Reichshauptstadt. Oder Werner Best, Organisator der SS -Mordkommandos in Polen - beide, jahrzehntelang unbehelligt, erkrankten rechtzeitig und wurden für verhandlungsunfähig erklärt. Ebenso Bruno Streckenbach, Organisator der „Ereignismeldungen“, angeklagt, „den Tod von mindestens einer Million Menschen verursacht zu haben“. Strekkenbach starb 1977 unbestraft. Das Verfahren gegen Werner Best, des 8000fachen Mordes angeklagt, wurde 1972 ausgesetzt, da er sich der Belastung eines Mammutprozesses nicht gesundheitlich gewachsen fühlte, und 1982 ganz eingestellt. Seither verstauben 800 Kilogramm Akten und eine 1000seitige Anklageschrift.
Ich fordere Freiheit für Peter-Jürgen Boock von einer Justiz - der bundesdeutschen - , die also die Top-Mörder der mobilen Vernichtungskommandos ebenso davonkommen ließ wie die Betriebsleiter der stationären Tötungsfabriken, dafür aber seit dreißig Jahren, seit 1958, nahezu ausschließlich die untersten Glieder in der Kette des industriellen Serien -, Massen- und Völkermords im deutschbesetzten Europa des Zweiten Weltkrieges vor ihre Schranken zitiert, die „kleinen Angestellten“ des Verwaltungsmassakers, die niedrigsten Chargen des Staatsverbrechens, eben die „Tötungsarbeiter“ selbst. Sie saßen völlig zurecht auf der Anklagebank, diese „Kleinen“, die mit ihren eigenen Händen, mit ihren Nagelstiefeln, ihren Stöcken, ihren Schußwaffen gemordet hatten. Aber da sie seit dreißig Jahren die Hauptmasse der Angeklagten vor den Schranken der bundesdeutschen Schwurgerichte waren, stellte sich immer dringlicher die Frage: wo sind eigentlich die „Großen“, die Planer, die Schreibtischtäter der Mordzentrale Reichssicherheitshauptamt, wo die Rüstungsgiganten, die „Wehrwirtschaftsführer“, die hohen und pflichtschuldigen Militärs, die Diplomaten und die Ärzte, die sich jedem Tötungsprogramm willfährig zur Verfügung gestellt hatten, kurz - wo war die Funktionselite des Dritten Reiches, ohne die nichts gegangen wäre? Wir wissen die Antwort: soweit sie überhaupt je angeklagt und verurteilt worden waren - und zwar ausschließlich durch amerikanische, britische und französische Militärtribunale - sind sie seit Mitte der 50er Jahre frei: Gewinnler des „Kalten Krieges“, wie davor des „Heißen“, Nutznießer der neuen deutschen Bündnisfähigkeit, nachdem die Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkrieges in die rivalisierenden Supermächte USA und UdSSR zerfallen war
-„Rüstest du deinen Deutschen auf, rüste ich meinen auf ...“
Für all das, für diesen „Großen Frieden“ mit den NS-Tätern, ist also nicht allein die bundesdeutsche Justiz verantwortlich. Ich fordere deshalb Freiheit für Peter -Jürgen Boock von einer Gesellschaft - der bundesdeutschen , die, in voller Übereinstimmung mit der Politik der ehemaligen Westalliierten, dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern, die getötet wurden wie Insekten, das größte Wiedereingliederungswerk für Täter folgen ließ, das es je gegeben hat! Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie letztlich nicht nur straffrei davongekommen, sondern konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen. Die Kräfte der Zerstörung waren auch die des „Wiederaufbaues“, die Elite des industriell-bürokratisch-militärischen Blocks nach 1945/49 die bis ins Personelle hinein gleiche wie in Hitlerdeutschland. Aber für das Leichengebirge, den wahren Leichen-Himalaya, der sich da vor unseren Augen himmelhoch auftürmt, konnten Täter angeblich nicht haftbar gemacht werden.
Von dieser Justiz und dieser Gesellschaft fordere ich Freiheit für Peter-Jürgen Boock! Ich fordere sie gegen die untergründige Kraft, die für all dies verantwortlich war und ist: der Wille jener bundesdeutschen Bevölkerungsmehrheit, die sich als unheilbar auseinandersetzungsunwillig und -unfähig gegenüber der NS-Vergangenheit ausgewiesen hat, und der sich die Parteien, so weit sie sich nicht in Übereinstimmung damit befinden, opportunistisch beugten. Die bundesdeutsche Justiz war nie unabhängig von dieser untergründigen Kraft - die scharfen Urteile gegen die Angehörigen der RAF und ihres Umfeldes bestätigen es: hier fehlt gegenüber den Tätern jene milde Nachsicht, die einem bei den NS-Prozessen geradezu ins Gesicht springt.
Von dieser Justiz und dieser Gesellschaft fordere ich: Freiheit für Peter-Jürgen Boock, der sich öffentlich überzeugend von seinem Irrtum, seinem Irrweg in der RAF distanziert hat! Für Peter-Jürgen Boock, der den Weg des Gewissens und der Reue gegangen ist, alles Schritte, die nach meinen vierzigjährigen Erfahrungen der überwältigende Teil der NS-Täter nie gegangen ist - und die dennoch, wenn überhaupt je angeklagt und verurteilt, auf freiem Fuße sind.
Ich nehme diese Mörder nicht als Meßmodelle für Peter -Jürgen Boock. Denn hier walteten nicht die gleichen Motive, hier galten nicht dieselben Ursprünge für Gewalt. Die derzeitigen Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols wissen schon, warum sie die Kette des bundesdeutschen Terrorismus nicht auf ihre sozialpolitische Initialzündung zurückzuführen wünschen. Käme dann noch unweigerlich ans Tageslicht , daß der ursprüngliche Antrieb für Empörung und Widerstand durchaus human motiviert war, nämlich als völlig begreifbare Auflehnung gegen die verlogene, inhuman verrottete Restaurationsgesellschaft der Adenauer-Ära und ihrer unsäglichen „Wir-sind-wieder-wer„-Etikette.
Dennoch keinen, nicht den geringsten Zweifel, nicht das kleinste Mißverständnis bis hierher: die Umsetzung solcher Auflehnung in terroristische Kriminalität halte ich nicht für einen falschen Weg, sondern ich erweise mich auch für vollständig unfähig, sie durch noch so gewagte ideologische Bocksrünge in Übereinstimmung mit der ursprünglich humanen Motivation zu bringen. Der Terrorismus heute bewirkt nichts anderes, als dem staatlich institutionalisierten Gegenradikalismus die Vorwände für seine Expansion zu liefern.
All das hat Peter-Jürgen Boock inzwischen längst erkannt und bekannt. In seinem Schlußwort des Revisionsverfahrens zu Stuttgart-Stammheim hieß es am 6. Mai 1986:
„Das erste Urteil sagt, Boock ist ein Mörder. Ich sage dagegen mit aller Klarheit - ich bin kein Mörder. Ich habe niemals auf Menschen geschossen. Ich war niemals dabei, als Menschen getötet wurden oder als auf sie geschossen worden ist. Ich habe auch niemanden veranlasst, das zu tun ... Beteiligt war ich nur an einem einzigen Kommando der RAF, dem Raketenwerferanschlag auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft, und diesen Anschlag habe ich vereitelt, indem ich die Zeitzünderfunktion nicht aktiviert habe. Das war mein ureigenster Entschluß und eben kein Versehen, wie es der Schuldspruch des ersten Urteils behauptet.“
Dieser Mann darf nicht da in Hamburg-Fuhlsbüttel lebendig begraben bleiben - Freiheit, Freiheit für Peter-Jürgen Boock!
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