: Freies Netz in Bayern
■ Es geht auch ohne CompuServe: Wie der Verein "Bingo" die Einwohner Ingolstadts auf den Datenhighway bringen will
In der Aula der Ingolstädter Berufsschule drängeln sich an die 80 Menschen – wegen Bingo. Wer allerdings Würfel und Loszettel erwartet hatte, wurde enttäuscht: Kein Glücksspiel stand auf dem Programmm, sondern Stadtteilgeschichte im World Wide Web. „Wir wollen Online-Informationen aus der Region ins Netz bringen“, sagt Marino Schwedhelm, einer der Initiatoren des Bürgernetzvereins Ingolstadt, kurz „Bingo e.V. Bis April 1996 will Bingo für die 100.000 EinwohnerInnen der Stadt einen Zubringer auf die Datenautobahn geschaffen haben.
Solche „regionalen Einwählknoten“ – einer auf 40.000 Einwohner – sollen Bayern zukünftig flächendeckend überziehen. Zusammen ergeben sie die Basis des Bayernnetzes (BayNet), mit dem Ministerpräsident Stoiber den Freistaat fit für das virtuelle Zeitalter machen will. Das „Bayern-Online“-Konzept, beschlossen im letzten März, soll außer Unternehmen und Behörden auch Privatpersonen mit der modernen Telekommunikation vertraut machen.
Für ein Pilotprojekt mit fünf Einwählknoten im fränkischen Raum waren rund 2 Millionen Mark Fördermittel vorgesehen. Als „FreeNet“ nach amerikanischem Vorbild sollten die Knoten in Nürnberg, Erlangen, Würzburg, Bamberg und Bayreuth kostenlosen Zugang bieten, so die Idee des Initiators Walter Krugemann, Psychologieprofessor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Um die Begriffsverwirrung komplett zu machen, erfanden findige Beamte gleich noch das „bayerische Innovationsnetz“ dazu, das auf der Basis der FreeNet-Knoten Wissenschaft und Wirtschaft einer Region verknüpfen soll. Daß sich daraus eine Bürgerbewegung entwickeln würde, hatte niemand gedacht: 35 Bürgernetz-Initiativen gibt es derzeit im Land, 15 haben gemeinnützige Vereine gegründet – u.a. in Cham, Deggendorf, Dillingen, Dingolfing, Moosburg, München, Passau, Penzberg und Schwindegg.
„Bei mir steht das Telefon nicht mehr still“, sagt Hans-Joachim Heusler, zuständiger Ministerialrat in der bayerischen Staatskanzlei. Heusler ist zugleich Vorsitzender des Dachverbands „Bürgernetzverein“, zu dem sich die regionalen Gruppen zusammengeschlossen haben. Der Verband stellt Mustersatzungen zur Verfügung und versteht sich als Lobby der nichtkommerziellen Netzbetreiber – dringend nötig, glaubt Bingo-Vorsitzender Schwedhelm: „Da rollt eine riesige Kommerzwelle auf uns zu.“ Von den kommerziellen Onlinern will er sich unterschieden wissen: „Wir treten nicht nur als kostenloser Provider auf, sondern zeigen den Leuten auch, wie's geht.“
Alle regionalen Trägervereine planen, in Seminaren und Workshops einen „Online-Führerschein“ anzubieten und so zur Volksbildung beizutragen – Grundbedingung für die Gemeinnützigkeit. Außerdem will man sich nach dem Vorbild der Mailboxen auf lokale Diskussionsforen und Homepages der jeweiligen Gemeinde und der dort vertretenen Interessengruppen beschränken. Nur dann erhalten die Trägervereine kostenlosen Zugang zu den Hochgeschwindigkeitsleitungen des bayerischen Hochschulnetzes, des Rückgrats von BayNet. Wenn die Universitäten wie geplant ab 5. April 1996 mit 34 Megabit pro Sekunde vernetzt sind, soll diese Infrastruktur auch den Bürgernetzen zugute kommen. Computer und Modem vorausgesetzt, könnte sich dann jeder zum Ortstarif einwählen und neben regionalen Informationen aus Vereinen, Wirtschaft und Politik auch Internetdienste wie E-Mail, WWW oder FTP nutzen – ohne zusätzliche Providergebühren. Wer sich bei Bingo einwählt, soll nicht einmal die jährliche Mitgliedsgebühr von 50 Mark bezahlen müssen.
Das alles ist freilich noch Zukunftsmusik, gibt Schwedhelm zu. Der Verein besteht erst seit Mitte November. Etwas weiter sind die Bürgernetz-Aktivisten in Schwindegg, etwa 30 Kilometer östlich von München. Dort wohnt Bertram Gebauer, hauptberuflich im bayerischen Kultusministerium tätig. In Eigenregie haben er und seine ehrenamtlichen Mitstreiter einen kompletten Einwahlknoten mit Rechnern, Modems und Leitungen aus dem Boden gestampft – nur ein Sponsor für die Standleitung zum Internetknoten an der Münchner Uni fehlt noch. Vom eigenen Server können die Ingolstädter allerdings nur träumen. Mit einer Investitionssumme von rund 80.000 Mark rechnet Schwedhelm allein für die technische Erstausstattung. 15.000 Mark will man selbst aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanzieren, den Rest sollten ursprünglich öffentliche Mittel abdecken. Genau da aber hakt die schöne Geschichte: Die vorgesehenen 2 Millionen Mark für die fünf FreeNet-Pilotprojekte reichen nicht für 35 Initiativen. Auch die 100 Millionen Mark, die der Freistaat bereitgestellt hat, sind längst für insgesamt 16 Vorhaben verplant – von der elektronischen Grundbuchführung bis zur Telemedizin. Die Bingo-Aktivisten haben deshalb Sponsoren im Visier. Vielleicht wird auf der künftigen Homepage das Logo eines bekannten Workstation-Herstellers prangen – für Schwedhelm durchaus mit den nichtkommerziellen Grundsätzen vereinbar. Außerdem soll sich die Stadt an den Aufbaukosten beteiligen, findet er. Hier kann er auf einen weiteren Ingolstädter bauen: Hermann Regensburger (CSU), Staatssekretär im bayerischen Innenministerium, hat versprochen, sich bei den Stadträten dafür einzusetzen – auch aus privatem Interesse. Andrea Wellnhofer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen