piwik no script img

„Frei zu leben“

■ Europäischer „Grand Prix de la Chanson“, ARD, 21 Uhr

Alle Jahre wird er totgesagt, doch alle zwölf Monate kommt er wieder: Der Grand Prix d'Eurovision de la Chanson. 29 europäische Fernsehzuschauernationen werden zuschauen, um das Ereignis anschließend wieder zu vergessen: Schlager, das zumeist leichte Liedgut für den niederen Alltag, eignen sich kaum zu Reflexionen oder allgemeiner Sinnstiftung. Für die Bundesrepublik geht mit der Startnummer 13 das Münchner Duo Chris Kempers/Daniel Kovacs an den Start. Ihr Lied Frei zu leben gewann den deutschen Vorentscheid Ende März haushoch vor der biederen Konkurrenz. Die mochte allerdings kaum an das eindeutig TED-Votum glauben, bezweifelte die Rechtmäßigkeit der Abstimmungsprozedur, bekam deswegen Zuspruch aus der Hackerszene und erstattete Anzeige gegen Unbekannt. Doch der Bayerische Rundfunk ließ sich nicht beirren und kümmerte sich nicht um die Anwürfe Drafi Deutschers, dessen von seiner Gattin Isabel Varell gesungene Melodie d'amour auf hinteren Rängen verendete.

Publikum und Branche hatten mal wieder einen veritablen Medienskandal - und alle freuten sich. Skandale sind schließlich das Salz in der Schlagersuppe. Andere Neider des von Ralph Siegel (Ein bißchen Frieden) komponierten und Michael Kunze (Ich will alles) getexteten Stücks mäkelten an der zeitgeistigen Botschaften des Liedes herum. Frei zu leben, so der Titel, spekuliere billig auf das ausländische Mitgefühl mit den Deutschen, die sich gerade anschicken, wieder ein Volk zu werden.

Doch Roswita Kunze, Ehefrau des Texters, bestreitet diesen Anwurf: „Das ist vielleicht ein Lied der Völkerverbundenheit. Aber zuerst ist es eine Geschichte einer Zweierbeziehung.“ Anders als Ketil Stokkan, der für Norwegen ein Couplet namens „Brandenburger Tor“ interpretieren wird, sei also der deutsche Titel nichts als ein modernes Liebeswerben ohne Heirat und Kinderwunsch: „Frei zu leben / Nicht nach vorne schau'n / Schritt für Schritt / Hand in Hand / mehr und mehr.“ Aber, so Roswita Kunze, „wenn solche Sensibilitäten in der Luft liegen, kann man es auch im deutschen Sinne deuten“.

Österreich, deutschen Grand-Prix-Liebhabern eine Nation non grata, weil es allen, nur nicht den Deutschen Punkte zuschiebt, macht es heuer auch nicht unterhalb der Wendeschwelle: Keine Mauern mehr, fordert die Sängerin Simone. Die Zuschauer werden die gute Absicht sicher bemerken. Andere Länder wie Schweden (Som en wind) oder Irland (Somewhere in Europe) lassen auch das westeuropäische Lebensgefühl hochleben.

400 Millionen Zuschauer freuen sich also auf die Lieder, zittern allerdings erst, wenn's um die Punktevergabe geht. Die Moderation in der Zagreber Vratoslav-Lisinski -Konzerthalle werden Oliver Mlakar und Helga Vlahovic bestreiten. Also auf ein Neues: „United Kingdom douze poäng, äh, twelve points.“ Chris Kempers und Daniel Kovacs sind leicht favorisiert, ebenso wie das schwedische Sakropopquartett Edin/Adahl. Verdient hätten allerdings die Isländer den Sieg: In fünf Jahren erreichten sie nie mehr als den 17. Rang. Können sie denn etwas dafür, daß niemand ihre Sprache versteht?

Jan Veddersen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen