■ Buchtip: Fokus Sprache
Der Schreibtisch ist eine durch und durch sexualisierte Welt, in der es von männlichen Wesen nur so wimmelt. Der Bleistift, der Locher, der Spitzer... Einzig die Schreibmaschine bildet eine Insel weiblicher Identität. So sieht es die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada. In ihren neuen Essays sucht sie nach den Obertönen in der polyphonen Klangwelt der Interkulturalität. Ihre Sinnesorgane sind Auge, Ohr und Zunge. Sie dringen in die Tiefenstrukturen der Welt ein, die sie wahrnehmen. Wer die Welt durch Tawadas japanische Brille sieht, nimmt unwillkürlich neue Dimensionen hinter den alltäglichen Dingen wahr. Oder hat Ihnen die deutsche Brezel je ein phonetisches B-Rätsel aufgegeben? Für die scheinbar naive Erzählerin wird bereits der Metalohrring am Ohr der deutschen Freundin zum rätselhaften Talisman. Ähnlich wie sich der Blick des japanischen Touristen nur durch die Linse des Fotoapparates auf das fremde Deutschland richtet, nähert sich die Ich-Erzählerin ihrer Welt. Als Linse dient ihr die Sprache. Aus dem vertrauten enpitsu wird auf deutsch plötzlich der fast bedrohliche männliche Bleistift.
Ihre Bilder sind nicht etwa schwarzweiß, die Bildoberfläche oszilliert je nach Lichteinfall in unzähligen Farben: Tawadas Metapher für eine facettenreiche Interkulturalität. Dabei erzeugt die ironische Brechung charmante Komik. Die Schwäche der Essays liegt in diesen interkulturellen Pflichtübungen. Das ewig gleiche Spiel von Eigen- und Fremdwahrnehmung einer Japanerin in Europa.
Spannender ist die Lektüre dagegen dort, wo Tawada sich hinter die Bedeutung der Wörter begibt. Dann entsteht Dynamik aus den wechselnden Machtverhältnissen in der Sprache. Die Ich-Erzählerin ist mal hilfloses Objekt überwältigender Fremdeindrücke, mal machtvolles schreibendes Subjekt, das beliebig erschafft oder dekonstruiert. Aus ihren Wörtern entstehen fiktive Welten, deren Schein trügt: „Denn die Erdoberfläche in Wörterbuchland besteht aus Papier und darunter ist nichts.“ Der Leser stürzt im freien Fall in die imaginäre Welt jenseits der Bilder. Die schwingende Kameraperspektive wechselt zwischen Großaufnahmen alltäglicher Bilder zu Feineinstellungen bis ins fotochemische Raster. Fokus bleibt immer die Sprache. In den metaphernreichen Sentenzen liegt die Originalität der Essays. „Der Blick ist eine Gewalt. Die Bücher empfangen ihn und verwandeln ihn in Buchstaben.“ Karin Yesilada
Yoko Tawada: „Talisman. Literarische Essays.“ Konkursbuchverlag, Tübingen 1996, 19,80 DM.
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