Flüchtlinge in Mexiko: Moderne Menschenopfer
Flüchtende in Mexiko finden nur an wenigen Orten Unterstützung. In der Zufluchtsstätte „La 72 Hogar“ können sie zur Ruhe kommen.
Jeder Besucher der Ruinen von Palenque in Südmexiko oder der Pyramiden von Tikal in Guatemala ist entsetzt über den religiösen Brauch der Maya, Menschen zu opfern, um die Götter zu besänftigen. Wie blutig, wie grausig! Die Beschreibungen der Reiseführer jagen dem schockierten Touristen Schauer über den Rücken. Unfassbar, unvorstellbar! Was für eine Bestialität.
Etwa auf halbem Weg zwischen Palenque und Tikal liegt das grenznahe Städtchen Tenosique und an seinem Rand die Zufluchtsstätte „La 72 Hogar“. 72 ist keine Jahreszahl, keine bürokratische Zuordnung. 72 ist die Zahl der Leichen nach einem Massaker an Flüchtlingen. Wieso und von wem sie umgebracht wurden, ist weiterhin nicht aufgeklärt.
In der Kirche dieses Flüchtlingsheims hängen Abbildungen der identifizierten Opfer um das Kreuz herum wie Antlitze von Märtyrern. Es wirkt, als wären auch diese 72 Menschen geopfert worden, auf einem Altar der wirtschaftlichen Sachzwänge und des politischen Zynismus. Die Schrecken, die uns umgeben, betrachten wir mit abgestumpfter Geduld, im Gegensatz zu den Schrecken der fernen Vergangenheit.
Fray Tomás, der Priester, der dieses Heim leitet, kennt einige der Angehörigen. Sie haben sich inzwischen bei Rechtsanwälten und Behörden hoch verschuldet, um Näheres über das Schicksal ihrer Liebsten zu erfahren. Denn bisher gibt es keinen einzigen Fall, in dem das Verschwinden eines Flüchtlings aufgeklärt oder gar der Täter angeklagt worden wäre. Jeder weiß von einem Verschwundenen zu erzählen. Die vielen Einzelfälle addieren sich zu einer gewaltigen Dunkelziffer.
ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher, darunter: „Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren“ (Residenz Verlag 2013) und „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag). Ende Mai 2017 erschien, ebenfalls bei S. Fischer, „Nach der Flucht“.
Trotz des Mahnmals ist die Herberge ein Trost spendender Ort. Hier wird Not gelindert, hier können die Flüchtenden kurz durchatmen auf ihrem langen Weg durch Mexiko hinauf in den gelobten Norden. Nur wenige ziehen schon nach einigen Tagen weiter, manche beantragen sogar Asyl, jeder Dritte – vor allem die Familien – bleibt hier, bis der administrative Prozess abgeschlossen ist. Zudem hat es in den letzten Jahren eine starke Zunahme unbegleiteter Jugendlicher gegeben. 2016 stellten sie mehr als die Hälfte der neu registrierten Flüchtlinge. Auch immer mehr Mädchen sind allein unterwegs. Deren Zahl hat sich in den letzten drei Jahren verdreifacht.
Gemeinsame Träume
Das Zentrum musste immer wieder anbauen. Es besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gebäude, jedes in einer anderen Farbe, freundlich und zuversichtlich. Alle Mauern sind bemalt, selbst die Decke, als Sternenhimmel, lokale Künstler führen die Tradition der murales fort. Die berühmten Wandmalereien von Diego Rivera zeichneten die Unerbittlichkeit der Geschichte nach, die als Wiederholung an Orten wie diesem sichtbar wird. Die Verzweiflung, die Opfer, alles dargestellt auf diesen Wänden, wie auch die gemeinsamen Träume, die zur Veränderung und Verwandlung führen könnten, im Gegensatz zu den individuellen Sehnsüchten, die meist Illusionen bleiben werden.
Besonders eindrücklich ist eine große Karte Mexikos, auf welcher die Fluchtroute eingezeichnet ist, mit gnadenloser Präzision: die Eisenbahnlinien, die Wüsten, die Kontrollen: Pistolen stellen Orte der Gewalt dar, Dollarscheine repräsentieren Zahlzwänge, zum Beispiel das zu entrichtende Schutzgeld, um auf einen Güterzug aufspringen zu dürfen (man braucht 700 Dollar, um nach Mexiko-Stadt zu gelangen – die „Illegalen“ müssen viel mehr zahlen als die Legalen, obwohl sie nicht einmal dritter Klasse reisen).
Flüchtlinge verursachen nicht nur Kosten, wie oft behauptet wird, sie sind ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor, eine Einnahmequelle für eine ganze Industrie, die Fluchtgewinnler. Die Undurchdringlichkeit der Grenze lässt die Preise entlang der gesamten Route ansteigen. Am alten Bahnhof von Tenosique ist ein ganzer Stadtteil mit billigen Absteigen und Lokalen entstanden, hier wirken die polleros (die Schlepper, wortwörtlich: die Hühnchenrupfer).
„Letzte Woche sind fünfzehn Flüchtlinge an den Gleisen von Gangstern überfallen worden“, erzählt Fray Tomás. „Einer von ihnen hatte eine Kugel in der Lunge. Die anderen trugen den Verletzten ins Krankenhaus, dort ist er gestorben. Sie haben beschlossen, sich nicht aus dem Staub zu machen, sondern zu bleiben, um Anzeige zu erstatten. Sie fordern vom Staat Aufklärung, denn ansonsten würden Fälle wie dieser wie immer unter den Tisch fallen. Ausgestoßene haben sich in soziale Kämpfer verwandelt. Ich hoffe, dass sich jene, die hier waren, für soziale Veränderung einsetzen werden, auch in den USA.“
Ein humanitärer Korridor
Es bedarf, erklärt er, wegen der vielen Gefährdungen entlang des Weges als Erstes eines humanitären Korridors, um die Flüchtlinge vor Überfällen und Betrug zu schützen. Kaum einer durchquert Mexiko, immerhin dreitausend Kilometer, ohne mindestens einmal Gewalt zu erfahren. So ein Anliegen wirkt gegenwärtig, nicht nur in Zentralamerika, als utopisch. Schon hört man die Stimmen der Fremdenhasser, man würde dadurch die illegale Migration befördern.
Fray Tomás zeichnet ein düsteres Panorama der Gegenwart. In Honduras wird die Lage zunehmend schlimmer, in Guatemala steht den Bewohnern von dreißig Dörfern ihre Vertreibung durch agroindustrielle Großprojekte bevor (der Friedensvertrag von 1996 sah zwar eine Landreform vor, aber dazu kam es nie; weniger als zwei Prozent der Bevölkerung besitzen siebzig Prozent des Bodens). Auch Mexiko respektiere die Rechte der Flüchtlinge nicht. Es drohe ein Kollaps der Hilfe, ein Zusammenbrechen der solidarischen Energie, eine Überforderung der empathischen Kräfte.
Tenosique hat vom Staat den Titel „pueblo magico“ (magisches Dorf) verliehen bekommen. Ein Titel, der zur tourismuswirksamen Verschönerung führen soll. Die Folge: sozial Anrüchiges wie etwa Flüchtlinge werden aus dem Städtchen gedrängt. Das ist der Unterschied zu den Maya: Jene Geopferten sollen unsichtbar werden.
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