: Flucht aus einer kleinen Welt
Ursina Greuel inszeniert „Spurlos“ von Phyllis Nagy im TiK ■ Von Joachim Dicks
Wer heute noch The Turtles hört, trägt entweder Glatze oder pflegt mit besorgniserregender Hartnä-ckigkeit sentimentale Empfindungen. Sarah Casey hat keine Glatze. Tagsüber arbeitet sie in dem Reisebüro ihres Onkels und träumt von der großen, weiten Welt. Abends lungert sie in Jacks Kneipe herum, tanzt zu „Eleanor“ und erzählt jedem, auch wenn er's nicht hören will, dass The Turtles den Song nur für sie geschrieben haben.
Soviel Naivität auf einem Haufen erregt Aufmerksamkeit. Second-Hand-Kleiderhändler Elston Rupp, der nach Ladenschluss die Kleider seiner Kunden trägt und mit jedem Anzug seine Identität wechselt, lädt Sarah zu einem Drink ein. Am nächsten Tag ist sie verschwunden. Spurlos. Spurlos – so heißt denn auch das Stück der anglo-amerikanischen Autorin Phyllis Nagy (sprich: Nadsch!), das am Wochende im TiK Premiere feierte. Es ist eine improvisierte und heruntergekommene Welt, in die Bühnenbildnerin Corinna Gassauer die Akteure hineinversetzt. Jacks Kneipe besteht aus ein paar Holzkisten, an einem Bretterverschlag baumeln verstaubte Boxhandschuhe. Ein verschlissenes Sofa markiert die Wohnung von Sarahs schlampiger Mutter, die ihre Tochter zwar zur Hochzeit drängt, den erstbesten Kandidaten aber lieber selbst vernascht. Das Reisebüro erinnert an eine alte Puppenstube, und das Telefon von Kommissar Ted Mitchell mehr an Die Berliner Kindheit von Walter Benjamin als an unser Handy-Zeitalter.
Die Freundschaft zu Patricia Highsmith mag für Phyllis Nagy mit ein Grund gewesen sein, dem Krimi-Genre eine besondere Rolle in ihren Theaterstücken einzuräumen. Allerdings nur als Katalysator. Das spurlose Verschwinden der Sarah Casey ist wie auch die Morde in ihren bisher noch unübersetzten Stü- cken Weldon Rising und Butterfly Kiss kein Kriminalfall, der nach Auflösung verlangt. Vielmehr ist es eine Metapher für die Lust, alles stehen und liegen zu lassen, einfach abzuhauen, oder auch eine Anspielung auf die Mittel, die inzwischen notwendig geworden sind, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Solange du einfach da bist, interessiert sich niemand für dich. Erst dein Verschwinden erregt das Interesse der anderen: Im Stück tritt Mutter Ellen (Angelika Thomas) als flennende Mutter in einer Talkshow auf. Na bitte.
Regisseurin Ursina Greuel spielt vom Blatt, hält sich an die Partitur der Autorin, die von sich selbst sagt, dass sie ohne Musik nicht schreiben könne. So können sich die Schauspieler auf den abwechslungsreichen Sprachrhythmus ihrer Figuren verlassen: Anekdoten in Plappermanier, staccatoartig hervorgestammelte Assoziationen, kurze pointenreiche Dialoge.
Helmut Zhuber in der Rolle des Elston Rupp tritt als einfallsreicher Verwandlungskünstler auf: mal als affektierter Anwalt der Unterhaltungsbranche, der ganz offensichtlich zu viele Humphrey-Bogart-Filme gesehen hat, mal als kurzsichtiger, verklemmter Konkursverwalter. Den Identitätsverlust bezahlt er mit dem Gewinn der multiplen Persönlichkeit. Angelika Richter als Sarah Casey quillt förmlich über vor lauter Sehnsucht nach besseren Zeiten, und Hans-Jörg Frey spielt den Kommissar Mitchell als einen völlig desillusioniertem Columbo: „Ich hasse meinen Beruf, und meine Kinder kann ich nicht ausstehen.“
Am Ende schließt sich der Kreis: Sarah und Elston verlassen ein zweites Mal Joes Bar. Auch The Turtles turteln wieder. Ob Sarah einen Liebhaber oder ihren Mörder gefunden hat, bleibt offen.
Weitere Vorstellungen: TiK – Theater in der Kunsthalle, 17.,19. und 21. November, jeweils 20 Uhr
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