: Fließendes Fallen
„Konzert-Ballett“ von außergewöhnlicher Schönheit im Stadttheater Bremerhaven: Jörg Mannes „Flüchtige Visionen“ basieren auf Klavierminiaturen von Sergej Prokofjew. Sie sind so empfindsam wie nüchtern, so feinnervig wie ironisch
Eine Hand streift über eine Schulter, die Hände eines Tänzers schnappen zu. Männer und Frauen begegnen sich, liegen sich in den Armen, knicken ein, sinken nieder. Figuren – kaum geschaffen – lösen sich wieder auf. „Flüchtige Visionen“ nennt Jörg Mannes sein neues Ballett im Großen Haus des Bremerhavener Stadttheaters.
„Flüchtige Visionen“ ist auch der Titel der zugrunde gelegten Klaviermusik von Sergej Prokofjew. Ein Zyklus von 20 Klavierminiaturen, in denen romantische Empfindsamkeit auf kühle Nüchternheit stößt. Am Flügel im Hintergrund sitzt der junge kanadische Pianist Marc Pierre Toth, der schon im letzten Jahr mit Mannes zusammengearbeitet hat. Jetzt wird der Flügel zum Teil des Spiels. Tänzer bewegen sich auf ihn zu, umkreisen ihn, jemand nimmt beim Wechsel zwischen zwei Konzerten die Noten vom Pult.
Die weite, offene Tanzfläche im Vordergrund wird von sichtbar angebrachten Scheinwerfertürmen beleuchtet. Über den Köpfen der Tanzenden – fünf Frauen, vier Männer – hängt eine Videowand, der Kamerablick fällt von oben auf die Mitte des Tanzbodens, auf Lichtstreifen, die an die gespreizten Finger einer Hand erinnern. Prokofjews „Flüchtige Visionen“ werden in den abstrakten Bewegungsstudien von Jörg Mannes zu flüchtigen Begegnungen, zu einem Zusammentreffen und Auseinanderfallen in den verschiedensten Formationen.
Das fließend-weiche Fallen ist ein Grundmotiv in Mannes Arbeiten, das Fallen, das Am-Boden-Kleben, auf allen Vieren kriechen, das Verschmelzen zweier Körper zu einer (tierischen) Figur. Dies aber ohne Pathos, mit einer verspielten Leichtigkeit, die auf den Witz und die Ironie der Musik von Prokofjew antwortet.
Der Ballettchef und der Pianist haben den kurzen Zyklus um zwei Klaviersonaten sowie um den ersten Satz des 2. Klavierkonzerts ergänzt: Das Ergebnis ist ein fast 90-minütiges „Konzert-Ballett“ von außerordentlicher Schönheit. Irgendwann wird ein Gerüst auf halbe Höhe gesenkt, die Kamera läuft an einem Gestänge nach vorn und verfolgt einen Solotänzer. Mathias Brühlmann tanzt in raumgreifenden Bewegungen und der Spitzentanz scheint zum flüchtigen Bild einer klassischen Ballettkultur zu werden, als wolle Mannes an Prokofjews großen Meistertänzer Diaghilew erinnern, der dem Komponisten geraten haben soll, sein 2. Klavierkonzert als Ballett aufzuführen.
Marc Pierre Toth holt die dramatischen Elemente des von ihm selbst arrangierten Klavierkonzerts ebenso feinnervig ans Licht wie er die weichen, impressionistisch angehauchten Melodiebögen der kleinen Formen in aller Farbigkeit aufblitzen und verschwinden lässt.
Aufblitzen und Verschwinden: Darin liegen Stoff und Motiv der Bewegungen, mit denen die Tänzer sich flüchtig halten und wieder verlieren. Am Ende konzentriert sich das Spiel auf die Hände: die Hände eines Tanzenden, die in Großaufnahme auf der Videowand erscheinen, die Hände des Pianisten, auf den die Kamera im letzten Teil zufährt, die Hände des letzten Tänzers, der, bevor er die Bühne verlässt, mit seinen Fingern den Tanzboden berührt, wie ein letzter flüchtiger Abschiedsgruß. Hans Happel
nächste Vorstellungen: 16. und 28.3.