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„Fliehen können wir nicht“

■ Ein Dorf im Kreis Pinneberg, dem größten Baumschulgebiet der Welt, leidet unter Leukämie Von Heike Haarhoff (Text) und Henning Scholz (Fotos)

Die schnurgerade Hauptstraße ist nach den dornigen Blumen benannt, für die das 2150-Seelen-Dorf über seine Grenzen hinaus bekannt ist. Schon einige Meter vor dem Ortseingangsschild von Klein Offenseth-Sparrieshoop verspricht die örtliche Baumschule „die schönsten Rosen der Welt“. Und zwar seit 1887. Ansonsten hat man die Gemeinde im Kreis Pinneberg, rund 35 Kilometer nordwestlich von Hamburg, mit dem Auto schon fast durchquert, bevor man ihren vollen Namen ausgesprochen hat.

Soweit das Auge reicht grüne Wüste. Das Dorf liegt im weltweit größten geschlossenen Baumschulgebiet. Wie gehorsame Soldaten stehen Obst- und Laubbäume in Reih und Glied und im Verdacht, den Tod nach Klein-Offenseth-Sparrieshoop gebracht zu haben. Das Grün der Monokulturen hat seine beruhigende Wirkung verloren: Vor zwei Wochen wurde auch offiziell bekannt, daß in der Gemeinde und den umliegenden Dörfern außergewöhnlich viele Menschen an Leukämie erkranken. Bei EinwohnerInnen über 15 Jahren wurden in Klein Offenseth-Sparrieshoop 55 Prozent mehr Blutkrebsfälle festgestellt als in Vergleichsgebieten. Eine epidemiologische Studie der Forschungsgruppe „Task force“ besagt, daß es in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1990 und dem 31. Mai 1995 in dem Untersuchungsgebiet insgesamt 134 Fälle von Lymphdrüsenkrebs, Bindegewebsgeschwülsten und Leukämien gegeben hat.

Mitte der 80er Jahre bekam Werner Desler aus dem benachbarten Kölln-Reisiek Blutkrebs. Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung. Dann der Rückfall. Knochenmarktransplantation. Zu den „Nebenwirkungen“ der Behandlungen gehörten eine künstliche Hüfte und zweimaliger Herzstillstand. „Manchmal dachte ich, ich bin im Tollhaus“, sagt seine Frau Christa. „Viele wissen ja gar nicht, was es heißt, wenn plötzlich der Verdienst fehlt und man sich fragt, wovon man eigentlich leben soll.“ Die Deslers kennen einige Familien im Umkreis, die Sozialhilfe beantragen mußten, als die Angehörigen an Krebs erkrankten oder starben.

Werner Desler hat überlebt. Und kämpft dafür, daß „endlich ein Umdenken einsetzt“. Denn für den heute 52jährigen Wirtschaftsberater und Makler ist klar, wer die zahlreichen Krebserkrankungen mitverursacht hat: „Die Pflanzen der Baumschulen werden hier bis zu viermal wöchentlich mit hochgiftigen, krebserregenden und erbgutschädigenden Mitteln gespritzt. Wir leben unter einer ständigen Dunstglocke und müssen das ganze Gift einatmen.“ Sieben Meter Garten trennen Werner Desler und seine Familie von der angrenzenden Baumschule. Wenn die Pesti- und Insektizide über den Feldern verteilt werden, „wurden wir auch schon mal durch die Hecke mit bespritzt“, erinnert sich Christa Desler. „Vollkommen dreist lief das ab“, sagt ihr Mann. Einmal habe seine Familie mit Freunden im Garten gegrillt: „Wir waren wirklich nicht zu übersehen.“

Die Deslers haben mehrfach geklagt. Denn Pflanzenschutzmittel wurden und werden entgegen allen Versprechungen auch dann versprüht, wenn der Wind sie direkt auf ihr Grundstück weht, oder zu Zeiten, wenn die Kölln-Reisieker Kinder gerade auf ihrem Schulweg sind. Besonders empfindlich und deshalb überdurchschnittlich oft behandelt: Rosen. Die Verfahren laufen noch.

Inzwischen ist auch die schleswig-holsteinische Gesundheits- und Sozialministerin Heide Moser von dem Ergebnis der von ihr beauftragtenTask-Force-Studie alarmiert. Dabei könnte das erst die Spitze des Eisbergs sein. Nach Ansicht von Werner Desler hat die Untersuchung aufgrund ihrer Anlage (begrenztes Gebiet, eingeschränkter Zeitraum, keine Erfassung anderer Krebsarten als Leukämie) nur einen Bruchteil der tatsächlichen Erkrankungen ermittelt. Werner Deslers eigene Statistik ist da genauer: Orangefarben eingezeichnete Pfeile auf einer Landkarte zeigen, in welchen Häusern Menschen Krebs haben. Einige Pfeile sind mit einem schwarzen Kreuz versehen.

„Wegen der Pestizid-Verseuchung mußten auch schon einige Trinkwasser-Brunnen im Kreis Pinneberg geschlossen werden“, kehrt der 52jährige zur Tagespolitik zurück. „Aber die Lobby der Baumschulen ist zu mächtig, als daß sich etwas ändern würde.“ Die „Lobby“ seien nicht nur die rund 7 000 Beschäftigten der Baumschulen im Kreis Pinneberg, sondern vor allem die Chemiebranche, „die zusieht, daß sie ihre Gifte los wird.“ Und von den örtlichen PolitikerInnen stillschweigend toleriert wird, weil der Pflanzen-Verkauf für die Gemeinden eben recht lukrativ ist.

„Tja“, zucken die Arbeiter auf dem Gelände einer Baumschule bei Barmstedt die Achseln, „die Mittel sind schon gefährlich.“ Aber man habe ja Schutzanzüge. Und solange die Chemikalien nicht gesetzlich verboten seien... Daß das „alles nicht so schlimm sein kann“, glaubt auch der Hobby-Gärtner des benachbarten Grundstücks und zeigt wie zum Beweis auf seine prächtig gedeihenden Erdbeerpflanzen.

„Die Pflanzenschutzmittel sind nicht der einzige Faktor“, weist Edeltraut Göttsch, Vorstandsmitglied im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), darauf hin, daß die Ursachen für die auffällig hohe regionale Leukämierate keineswegs erschöpfend erforscht sind. Im Verdacht stehen neben den Pestiziden die elektromagnetischen Wellen einer Funkstation der Post, austretende Radioaktivität aus den umliegenden Kernkraftwerken Stade, Brokdorf und Brunsbüttel sowie Elektro-Smog, verursacht von den Starkstrom-Überlandleitungen. „Holz- und Pflanzenschutzmittel, die privat eingesetzt werden, tun ihr übriges“, sagt Edeltraut Göttsch. Sie fordert eine längerfristige, regionale Untersuchung, um den Ursachen auf die Spur zu kommen. „Es geht mir darum, unsere Kinder zu schützen.“

Doch viele wollen davon lieber nichts wissen. Sie wenden sich ab, verdrängen die eigene Angst, geben sich gleichgültig. „Wenn ich mit meinen Nachbarn darüber rede, sagen die, ich bin eine grüne Spinnerin.“ Andere Betroffene wollen sich nicht „vernetzen“ oder Bürgerinitiativen beitreten, wozu der BBU und die Grünen im Kreis Pinneberg kürzlich während einer Informationsveranstaltung über Krebsrisiken in Elmshorn aufriefen: Das Leid und die Pflege der eigenen Angehörigen kostet schon genug Kraft. Darüber auch noch öffentlich reden sollen, scheint vielen ohne den nötigen Abstand unmöglich.

In Klein Offenseth-Sparrieshoop „war Leukämie schon vor der Studie Thema“, sagt die Verkäuferin im Lebensmittelladen in der Rosenstraße. Am frühen Nachmittag treffen sich die Mütter – den dreiradfahrenden Nachwuchs im Schlepptau – hier beim Einkauf. „Die meisten kennen sich“, sagt eine Frau. Vor Jahren, „als die Kinder kamen“, sind sie in das Dorf gezogen. Diese Vertrautheit erleichtert es, Bedrückendes auszusprechen: „Die Leukämie kann jeden von uns treffen“, sagt die Frau. Deswegen habe sie das Ergebnis der Studie „gar nicht überrascht“, erzählt eine Kundin. Aber „das Ganze darf jetzt nicht in Panikmacherei ausarten“.

„Genau“, nickt der Baumschul-Verkäufer und beteuert, daß „Rosenzucht ohne Pflanzenschutzmittel heutzutage nicht machbar ist“. Auch viele SparrieshooperInnen wollen nicht die alleinige Schuld auf die Baumschulen schieben. „Schließlich hatten hier früher viele Leute ihre ganz private E-605-Spritze für den eigenen Garten“, sagt eine Einwohnerin. Man habe es eben nicht besser gewußt. Und welche Faktoren da zusammenspielten, sei ungeklärt. Forschungsbedarf ist da. „Nur: Was sollen wir denn machen?“, fragt die Frau stellvertretend für die Leute aus dem Dorf. „Wir haben hier jahrelang für unsere Häuser gespart. Fliehen können wir nicht.“

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