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Flanierende Schreibweisen

Morgen: Thomas Nickel und Thomas Meinecke im Literaturhaus  ■ Von Sven Opitz

Als der Autor, Musiker und Radio-DJ Thomas Meinecke das letzte Mal im Hamburger Literaturhaus zu Gast war, hatte sich der Suhrkamp-Verlag etwas Besonderes ausgedacht. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums sollten lebende Verlagsautoren Texte von verstorbenen lesen. Meinecke griff zu seiner alten Ausgabe von Walter Benjamins Essay „Charles Baude-laire“. Er ließ Benjamin von den Ursprüngen der Massenkultur im 19. Jahrhundert und von dem produktiven Müßiggang der Flaneure im großstädtischen Raum berichten. Und plötzlich schien Meineckes Entscheidung für den Text Sinn zu machen, weil sie vorsichtig auf die Ähnlichkeit seiner Arbeitsweise mit der Benjamins hindeutete. Beide Autoren sind fasziniert von der Erkenntniskraft, die in den Schichten der historischen Daten schlummert. Das akribisch gesammelte Material erscheint ihnen lesbar wie eine Schrift, so dass es seine Geschichte bereits in sich trägt. Jede zusätzliche, von einem Autor hinzugefügte Handlung lenkt da nur ab. Lässt Benjamin die Warenhäuser und Straßenschilder selbst sprechen, sind es bei Meinecke Techno-Maxis aus Detroit, urbane Wohnungsbauprojekte und Mariah Careys Hautfarbe. In der Wendung zu den Objekten selbst vollziehen beide Autoren eine Art Konkretisierung, um zugleich festzustellen, dass das Faktische immer schon jede Menge Theorie enthält.

Was bei Meinecke nach dem Tod der klassischen Narration übrig bleibt, ist ein Anliegen, das man durchaus „dekonstruktivistisch“ nennen könnte. Er ordnet das zusammengetragene Material in einer Weise an, die Ordnung durchkreuzt und Vieldeutigkeiten ausstellt. In seinem Roman The Church of John F. Kennedy geht Meinecke der Hybridität deutscher Identitäten auf amerikanischem Boden nach und Tomboy ist vielleicht die schönste Literarisierung der Gender Studies. Sein jüngster Roman Hellblau bindet nun die Geschlechterfrage zurück an das Thema postkolonialer Ethnizitäten. Er erzählt von Konstruktionsvorgängen, die weiße und schwarze Menschen herstellen und die in seltenen Fällen weiß zu schwarz oder schwarz zu weiß transformieren. Berichtet wird von den posthumanen Exis-tenzweisen derjenigen, denen die Menschenrechte des Abendlandes nie zuerkannt wurden: Migranten, Cyborgs, Aliens. Dabei lassen die drei Ich-Erzähler ihre Notizen ei-nander überlagern, bis eine zwischen afrodiasporischen Mythen und Free Jazz nomadisch vagabundierende Schreibweise entsteht. „An uns, die Leser, ist dabei nicht gedacht“, jammert Reinhard Baumgart in der Zeit.

Das Unverständnis der Kritik kennt auch Eckhart Nickel, mit dem Meinecke morgen im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Alles Pop, oder was?“ zusammentreffen wird. Nickel war Teil des sebsternannten „popkulturellen Quintetts“, das aus dem Hotel Adlon heraus die Welt einem dandyistischen Blick unterzog. Vor allem der elitäre Habitus der Gruppe beim Zelebrieren feinster Unterschiede fand in der Rezeption nicht nur Freunde, wohingegen die tragische Dimension der Leere hinter den Markennamen meist übersehen wurde. Weniger bekannt als Ni-ckels Teilnahme an Tristesse Royale ist seine Dissertation mit dem Titel „Flaneur“. Untersucht er darin, wie in Thomas Bernhards Auslöschung der Subjekttypus des „Geistesdandy“ konstituiert wird, folgt Nickel in seinem Erzählband Was ich davon halte den Figuren des Flaneurs und des Dandys in unaufgeregte Alltagssituationen. Dort sind sie zumeist ziellos Umherwandernde, denen das Gefühl der Zugehörigkeit fremd ist, weil die Fremde eher durch sie hindurchgeht.

Moderieren wird die kleine Runde Johannes Ullmaier. Der hat zwar keine Literatur im engeren Sinn produziert, dafür aber ein Buch über die deutschsprachige so genannte Popliteratur: Von Acid nach Adlon und zurück spannt den Bogen von Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann oder Hubert Fichte aus den 60er Jahren bis in die Gegenwart und bietet vor allem eine sehr ausführliche Dokumentation des Quellenmaterials.

morgen, 20 Uhr, Literaturhaus

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