piwik no script img

Ffup oder Puff

■ Zur Aufführung von Jean Genets Stück „Le Balcon“ in Paris

Es gibt so ärgerliche Kritiken, daß man den Schreiber am liebsten mit einem zentnerschweren Stapel seiner Zeitung in den Boden rammen möchte. So die vor kurzem in der 'FAZ‘ abgedruckte Kritik der Aufführung von Jean Genets Le Balcon am ThéÛtre de l'Odéon in der Inszenierung von Lluis Pasqual. Lässig schreibt Joseph Hanimann, das Theater „dieses großen Prosaautors“ sei „seltsam verbraucht, die Bilderwelt verschlissen“, und am Ende verkündet er donnernd: „Der Text ist nicht mehr verständlich.“

Was läßt Genets Stück unaktueller erscheinen als etwa antike Blutrache oder das Schicksal englischer Königshäuser? Geschrieben 1956, geht es in Le Balcon darum, ob die Welt ein Bordell ist oder das Bordell die Welt.

„Der große Balkon“ heißt Madame Irmas Puff, von ihr selbst „das Haus der Illusionen“ genannt. Dorthin kommen die Kunden, um ihr eigenes Theater zu spielen. In der Verkleidung eines Würdenträgers kosten sie die Lust der Autorität als General, Bischof oder Richter mit den willig ihren Part spielenden Huren aus. Der einzige „echte“ Würdenträger, der Polizeichef, bringt die Nachricht von der Eskalation der tobenden Revolution, die die Welt „draußen“ hinwegfegt, die „wahren“ Würdenträger exekutiert. Nun stellen Madame Irma und ihre Kunden die neue Regierung, das Volk hat seine Königin wieder. Doch die gerade gewonnene Würde erweist sich als genauso falsch wie die im Freudenhaus, noch einmal „klappt“ die Handlung um, und am Ende schmeißt Madame Irma uns alle aus ihrem Bordell, schmeißt uns Genet aus seinem Stück, damit wir endlich nach Hause gehen, „wo, und da können Sie sicher sein, alles noch falscher ist als hier“. Von Madame Irma als Kunden im Haus der Illusionen entlarvt, finden wir dort den letzten und endgültigen Spiegel, für den es keine erleichternde Auflösung mehr gibt.

Während der Schlußszenen der Pariser Aufführung flimmert auf der Bühne bereits ein kleiner Fernseher, an die Stelle der laut Regieanweisung verlangten Spiegel tritt die diskrete Präsenz der Mattscheibe, die das Bühnengeschehen in allerletzte Anführungszeichen setzt. Simulacrum statt Spiegelung, Dissimulierung statt Illusion. Am Ende reduziert sich die barocke Bilderwelt eines von der Revolution bedrohten Luxusbordells auf ein blaßschimmerndes Viereck.

Der 'FAZ‘-Kritiker bedauert, „wo einst Schock war, ist heute Langeweile“, und setzt damit die „Aktualität“ von Genets Theater gleich der Schockwirkung, die es in den fünfziger und sechziger Jahren auf eine bürgerlich-konservative Pariser Vor-68er-Kultur ausübte. So werfen auch Teile der französischen Kritik (Colette Godard in 'Le Monde‘, von deren Artikel sich Hanimann bis auf identische Zitate inspirieren ließ) Genets Theater paradoxerweise Verbrauchtheit aufgrund des Verschwindens eines Skandaleffektes vor, um den sich der Autor gar nicht scherte, mit dem er als Nebenprodukt höchstens kokettierte.

In der Einführung zu Le Balcon gestattet Genet den Schauspielerinnen, die sich an unanständigen Worten stören, verschmitzt, diese durch Verdrehen zu entschärfen: Ffup statt Puff, Sechwi statt Wichse undsoweiter. An der Londoner Uraufführung 1957 bemängelte er die allzu offensichtliche Darstellung des Bordells und warf Regisseur Peter Zadek vor, statt einer „Tragödie für die Folies Bergères“ inszeniert zu haben.

Zur Frage der Obszönität von Genets Stücken meint Regisseur Pasqual: „Heute schockt nichts mehr. Das Fernsehen zeigt alles auf die gleiche Weise — Leichen, Joghurts, Pornos, Kriegsfilme. Jeder ist auf alles gefaßt, einschließlich der Theaterzuschauer, der bereits beim Eintreten weiß, was er sehen wird — oder will. Die einzige Provokation, die bleibt, ist die des Zweifels, der Destabilisierung, und sei es auch nur drei Sekunden lang.“ (In 'La Croix‘ vom 15.April)

Pasqual nimmt Genets Regieanweisung „il faut tenir l'équivoque jusqu'à la fin“ (man muß den Doppelsinn bis zum Ende durchhalten) wörtlich. Dank einer erstklassigen Besetzung und präzisester Inszenierung „klappen“ wir nach jedem Stadium der Spiegelfechtereien mit um, auf die endlich richtige Realität, auf den letzten Spiegel, um uns im nächsten wiederzufinden. Ob es dabei vielleicht übertrieben ist, das Theater mit ohrenbetäubenden Explosionen in ein Schlachtfeld zu verwandeln und die Zuschauer in Rauchschwaden zu ersticken, ob der Plüsch zu rot ist und die Strauß-Walzer zu laut sind, darüber mögen sich die Kritiker streiten. Womit wir wieder auf den zentnerschweren Zeitungsstapel zurückkommen und uns Jean Genet vorstellen, wie er in einem seiner Hotelzimmer neben leeren Gauloise-Schachteln vom „seltsam verbrauchten Theater dieses großen Prosa-Autors“ gelesen hätte. Was er wohl dazu gesagt hätte? „Sechwi!“ Florence Dupont

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen