■ Fehlstart: Starrer Blick auf den Schirm
Liebes Tagebuch, seit über einer Woche machen wir unsere härteste Beziehungsprobe, euphemistisch Olympiade genannt, durch. Ich muß Dir das jetzt mal erzählen, denn mit T. habe ich seit Tagen kaum ein Wort gewechselt.
Ich stehe auf, und der alles beherrschende Unterton unserer zwei Fernseher setzt ein. Dann entferne ich nur die entbehrlichsten Gegenstände wie volle Aschenbecher und leere Chipstüten und Bierflaschen Richtung Küche. Leise, leise gehen das Kind und ich auswärts frühstücken und lassen die reglose, rotäugige Gestalt vor dem Fernseher allein. Nach Einkäufen, Spielplatzbesuch und verschiedenen Besuchen lange vernachlässigter Freundinnen und Freunde nehmen wir unser Wohnrecht wieder wahr. Das Kind setzt sich zum Vater, und gemeinsam werden die Medaillenergebnisse des Tages rezipiert. Im Nebenraum erreichen Spanische-Gitarren- Klänge mein Ohr, und eine Stimme sagt, daß man „individuell zusammengestellte Heimwerkerbänke“ gewinnen könne. Der tiefere Zusammenhang wird mir wohl ewig verborgen bleiben.
Starrer Blick auf den Schirm
Gestern habe ich versucht, mit T. über unsere Situation zu sprechen. Ich schlich mich gegen null Uhr in sein Zimmer. Da saß er dann an seinem Schreibtisch — links , etwa einen Meter von ihm entfernt, der laufende Fernseher mit einem Geher-Wettkampf, rechts der Computer mit einem Tetrisspiel. In der Mitte ein randvoller Aschenbecher. Das war die ideale Gelegenheit für ein Gespräch. Aber mit einem starrem Blick auf beide (!) Bildschirme und dem Verweis auf die Menschenrechtskonvention beendete er unseren Dialog.
Heute ist es schon der elfte Tag, den dieser Zustand anhält. Wie wird das alles enden? Gestern hat er schon zum zweitenmal eine Urinprobe von mir und dem Kind verlangt. Einen Brief an seine Mutter hat er in Tabellenform abgefaßt, und auf unserem Einkaufszettel lediglich „Ritter Sport“ und „Programmzeitschrift“ notiert. Diese Woche noch, dann ist Olympia überstanden. Die Frage bleibt, was dann noch von T. übrig sein wird. Seit Tagen hat er nicht mehr geduscht, nachts höre ich ihn während der Ergebnisse manchmal leise weinen. Vielleicht sollte ich die Öffentlich-Rechtlichen verklagen? -anja-
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